Fokus
Nadja Neumann

Wehrhaft und trotzdem verletzlich

Wenn Anpassungsstrategien scheitern
Um als Spezies fortzubestehen, haben im Wasser lebende Organismen verschiedenste Strategien entwickelt. Störe haben schon vor Jahrmillionen mit ihrem Panzer Fressfeinden getrotzt und verlagern ihre Lebensräume, Schwefelmollys überleben in giftigem, fast sauerstofffreiem Wasser, und auch die Fischbestände in der Oder erholen sich nach und nach von der Katastrophe von 2022. Die Wehrhaftigkeit von Organismen hat jedoch Grenzen, was sich bereits bei winzigen, einzelligen Lebewesen nachweisen lässt.
IGB-Forscher Jörn Gessner hält einen jungen Stör in den Händen.

IGB-Forscher Jörn Geßner hält einen jungen Stör in den Händen. Die Vorfahren dieser besonderen Fische lebten bereits vor etwa 250 Millionen Jahren auf der Erde. In dieser langen Zeit hat sich ihr Aussehen kaum verändert: Lange Reihen aus Knochen liegen auf der Haut und schützen sie gegen Fressfeinde. | © Jacobia Dahm

Es gibt buchstäblich keinen Flecken Erde, und sei er noch so unwirtlich, an dem kein Leben existiert. Zum Beispiel jener Fluss in Mexiko, an dem David Bierbach das Leben zweier Fischarten erforscht. Dieser Fluss wird aus Quellen vulkanischen Ursprungs gespeist, die sehr schwefelwasserstoffhaltig sind. „Damit ist das Wasser hochgiftig für alles, was mehr als eine Zelle hat“, sagt der Biologe. Da Schwefelwasserstoff und Sauerstoff im Wasser miteinander reagieren, ist es sauerstofffrei, was man mit bloßem Auge an der milchigen Farbe erkennt. Im Organismus bindet Schwefelwasserstoff an die gleichen Eiweiße wie Sauerstoff, so dass Zellen kein Adenosintriphosphat (ATP) produzieren und mithin nicht funktionieren können. Zwei Fischarten, Schwefelmollys (Poecilia sulphuraria) und Moskitofische (Gambusia eurystoma) haben sich jedoch an diese lebenswidrigen Bedingungen angepasst: Sie verfügen über eine Proteinadaption, die verhindert, dass Schwefelwasserstoff an bestimmte Proteine in den Mitochondrien andocken kann. Deswegen ist für beide Arten das Wasser weniger giftig. Seit mehreren 100.000 Jahren existieren diese Tiere in diesem Gewässer, dessen Fläche etwa mit der des Müggelsees vergleichbar ist, und sie können auch nur in diesem Wasser überleben – ihr Organismus ist hochangepasst. 

Erfolgreiche Strategien gegen Schwefel und Fressfeinde

Natürlich brauchen auch diese Fischarten Sauerstoff. Dafür haben sie größere Köpfe mit größeren Kiemen entwickelt. An der Wasseroberfläche befindet sich ein dünner, noch leicht sauerstoffhaltiger Film. Diesen lassen die Tiere über ihre Kiemen laufen und nehmen dabei den darin vorhandenen Sauerstoff auf. Davon brauchen die Fische sehr viel, weil auch die Wassertemperatur mit weit über 30 Grad extrem ist. Bei derart hohen Temperaturen laufen Stoffwechselprozesse schneller ab, die Zellatmung legt zu. Auch um mit dem Schwefel zurechtzukommen, der über Kiemen und Körperoberfläche eindringt, wird Sauerstoff benötigt. Nahrung hingegen ist im Überfluss vorhanden: Weil in dem schwefelhaltigen Wasser enorm viele Bakterien leben, kommen die Tiere in sehr hoher Dichte vor – was wiederum Vögel anlockt. Auch hierfür haben die Fische eine Gegenstrategie entwickelt. „Verstecken ist keine Option, da die Fische an der Oberfläche sein müssen. Um den hohen Räuberdruck etwas abzumildern, tauchen die Fische in schneller, koordinierter Wiederholung auf und ab. Von außen sieht das dann aus wie gigantische La-Ola-Wellen, die durch den ganzen Fluss laufen und an denen mehrere hunderttausend kleine Fische beteiligt sind. Und diese ‚La-Ola-Wellen‘ schrecken dann die Vögel ab, und die Zeit bis zum nächsten Angriff wird verlängert“, erklärt David Bierbach.

Schwefelmolly

Ein Schwefelmolly | © Matthias Schulze

Schwierig wird es für die Fische, wenn die Temperaturen weiter ansteigen. „Da ihre Umwelt, an die sie sich angepasst haben, extrem lebensfeindlich ist, befinden sie sich bereits an ihrem Limit“, sagt David Bierbach. Das konnten die Forschenden beobachten, als in einem Bereich des Flusses das Ufer aufgebaggert wurde. Ein großer Schub warmes Quellwasser gelangte in den Fluss, das diesen vorübergehend um ein Grad erwärmte und auch mehr Schwefel in den Fluss eintrug. „In der Folge ging eine Todeswelle durch den Fluss, weil diese kleinen Veränderungen für die meisten Individuen nicht auszuhalten waren“, berichtet der Forscher. Die Bedingungen hielten nur kurz an, einige Fische überlebten. Sollten durch den Klimawandel die Temperaturen dauerhaft leicht ansteigen, dürften die zwei Arten allerdings ein hohes Aussterberisiko haben, prognostiziert der Forscher. 

Gepanzerte Wanderer: Störe

Dass sie wehrhaft sind, beweisen Störe bereits seit 250 Millionen Jahren. Sie verfügen über einen Knochenpanzer, der Räuber abschreckt – auch wenn der Panzer von heute nicht mehr dem von einst gleicht. „Die fünfreihigen Knochenschilder sind nur noch ein Überbleibsel, zwar aus demselben Material, aber deutlich kleiner“, sagt Jörn Geßner. Sie helfen allerdings nicht viel gegen den Menschen, der schnell lernte, Störe erfolgreich zu jagen: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zogen Fischer pro Jahr 10.000 Störe aus der Elbe, eine begehrte Beute, denn jedes der bis zu viereinhalb Meter langen Tiere brachte bis zu 300 Kilogramm Fleisch. 

„Über Jahrmillionen bestand die Strategie des Störs darin, dass sich Populationen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich weit vom Meer entfernt in den Flüssen vermehren und dann als Jungfische ins Meer abwandern, um dort zu leben und aufzuwachsen. Das war ideal, um langfristig riesige Bestände aufzubauen“, sagt Jörn Geßner. Die Wanderungsbewegungen sind dabei genetisch vorprogrammiert und keine individuelle Entscheidung der Tiere. Dabei kehrt die überwiegende Mehrheit der Tiere immer wieder in ihre Geburtsflüsse zurück. Über lange Zeiträume hinweg können auch Störe neue Lebensräume erschließen. So wanderte der Europäische Stör nach der letzten Eiszeit an der iberischen Halbinsel vorbei in den Norden. „Alleine um von der Seine bis in den Rhein zu gelangen, benötigte der Stör 800 Jahre. Es sind immer nur ein paar Streuner, die ausscheren und über Jahrhunderte neue Populationen aufbauen“, sagt Jörn Geßner. 

Das funktioniert aber nur, solange die erwachsenen Störe nicht weggefischt werden – und die Fließgewässer intakt sind. Zum Laichen braucht der Stör sauberen Kies, der frei von Sand und organischem Material ist, damit die an den Steinen klebenden Eier mit sauerstoffreichem Frischwasser versorgt werden. Im Zuge der Industrialisierung verschlechterte sich die Wasserqualität, wegen der Schadstoffe starben Eier auf den Laichplätzen ab, die wiederum zunehmend verloren gingen, etwa weil Flüsse für die Passage größerer Schiffe ausgebaggert und reguliert wurden. Auch der Klimawandel beeinträchtigt die Lebensbedingungen des Störs. Hochwasser im Frühjahr reinigt die Kiesbänke, daran sind die Laichzeiten der Störe gekoppelt. Zunehmend verkürzen sich jedoch diese Phasen oder verschieben sich, so dass die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Vermehrung weiter eingeschränkt werden. Regional erreichen die sommerlichen Temperaturen schon heute die Toleranzgrenze der Jungfische, so dass in Zukunft ganze Regionen der historischen Verbreitung für die Art ausfallen. „Diese Veränderungen treten jetzt wie im Zeitraffer auf, so dass langlebigen Arten mit langen Generationszyklen zu wenig Zeit bleibt, sich an die Veränderungen anzupassen“, sagt Jörn Geßner. Ob es gelingen wird, den Stör in Ostsee und Oder wieder heimisch zu machen, ist noch ungewiss. Seine wehrhafte Hülle, so viel ist sicher, wird ihm dabei nicht helfen.

Rückkopplungen beeinflussen die Resilienz von Populationen

Lynn Govaert erforscht einzellige Wimperntierchen, um herauszufinden, welche Bedingungen Organismen benötigen, um zu leben und sich zu vermehren – und was sie dabei stresst. Mit Colpidium striatum und Paramecium aurelia hat sie sich zwei Arten herausgesucht, die miteinander um die gleiche Nahrung konkurrieren, aber gegensätzliche Vorlieben bei ihrer optimalen Umgebungstemperatur haben: Während Paramecium es gerne warm mag, um sich zu teilen, zieht Colpidium niedrigere Temperaturen vor. In ihrer Versuchsanordnung setzte Lynn Govaert beide Arten in ein System und variierte Temperatur und Salzgehalt des Wassers. „Wir wollten wissen, was passiert, wenn sich gleichzeitig zwei Umweltparameter ändern und die Organismen zusätzlich um Nahrung konkurrieren müssen“, sagt sie. Die Forschenden maßen, wie sich Zellgröße und Populationsdichte bei beiden Wimpertierchen-Arten ändern: Üblicherweise bestimmt die Zellgröße, wann sich ein Tierchen teilt. Gibt es in einem Lebensraum viele Individuen, sinken deren Zellgrößen, entsprechend sinkt auch die Vermehrungsrate und somit die Dichte der Population. 

Doch dies gilt nicht immer, auch die Umweltbedingungen haben einen Einfluss auf die Vermehrungsrate und damit auf die Resilienz der Organismen, wie Lynn Govaert zeigen konnte. „Wir beobachteten zum Beispiel, dass Colpidia an einem bestimmten Punkt sehr große Zellgrößen aufwiesen, die Dichte der Population aber trotzdem nicht wuchs, weil sich die Tiere nicht teilten. Offensichtlich waren sie von Änderungen ihrer Umwelt – in diesem Fall höhere Temperaturen – gestresst“, berichtet die Forscherin. Weniger Individuen und höhere Temperatur bieten außerdem Bakterien, von denen sich die Einzeller ernähren, gute Wachstumsbedingungen – trotzdem stiegen die Zellteilungsraten im Experiment nicht an.

Rückkopplungen zwischen der Populationsdichte und bestimmten Eigenschaften der Wimperntierchen können offensichtlich je nach Umweltbedingungen gestört sein. „Das spricht für eine geringere Resilienz dieser Organismen“, sagt Lynn Govaert. Ihre Arbeit zeigt, dass Lebewesen nicht „einfach“ auf Umweltveränderungen reagieren: Sie lösen Rückkopplungseffekte aus, die bestimmte Veränderungen verstärken, aber auch konterkarieren können.

Oder-Katastrophe 2022: Widerstandsfähige Fischbestände, wenn der Fluss frei fließen kann und Refugien bietet

Bei der ökologischen Katastrophe im Sommer 2022 in der Oder starben etwa 1.000 Tonnen Fische. Wie es im Nachgang dieser Ereignisse um die Resilienz des Fischbestands im letzten durchlässigen Flusssystem Europas steht, hat ein Team um Christian Wolter untersucht. Die Forschenden bewerteten die Rückgangsraten der Bestände unter Berücksichtigung natürlicher Populationsschwankungen: Je nach Oderabschnitt ging die Fischdichte um bis zu 76 Prozent zurück. „Die erste gute Nachricht lautet, dass alle Arten überlebt haben“, sagt der Forscher. Größere Fischarten und solche, die mehr in der Flussmitte leben, wurden stärker beeinträchtigt. Arten, die sich bevorzugt in Nähe des Ufers aufhalten, kamen besser klar, weil die Goldalge dort nicht so präsent war wie im tieferen Wasser. Die erfassten Rückgänge sind relativ; bei kleineren Arten waren zehntausende Individuen pro Hektar betroffen, bei großen Fischen eher wenige Exemplare. 

Eine weitere gute Nachricht: Die Bestände erholen sich seither. „2023 gab es ein langanhaltendes Frühjahrshochwasser und damit gute Aufwuchsbedingungen. Hinzu kam das Moratorium der Berufsfischer, vor der Laichzeit keine Fische in der Oder zu fangen. Deswegen hatten wir eine super Startkohorte mit sehr vielen Jungfischen“, berichtet Christian Wolter. Die Forschenden gehen davon aus, dass alle Bestände sich bis 2026 bzw. 2027 erholen können. Einzelne Fischarten sind bereits so weit: Der Gründling etwa hatte bereits nach einem Jahr seine vorherige Bestandsgröße erreicht. 

Neben den guten externen Bedingungen helfen den Fischen zwei Mechanismen: Sie haben ein sehr hohes Reproduktionspotenzial und sind mobil. Ein Fisch kann bis zu eine Million Eier produzieren, aus denen, wenn wie 2023 ausreichend Laichfläche vorhanden ist, auch viele Fische schlüpfen können. „Das heißt, man braucht nur wenige Individuen und kann trotzdem einen starken Jahrgang haben, wenn die Bedingungen stimmen“, so Wolter. Fische sind etwa zehn bis 15 Jahre lang reproduktiv, die Chance auf mindestens einen guten Jahrgang ist also hoch, was zur Resilienz der Arten beiträgt.

Die Mobilität in Verbindung mit der freien Durchwanderbarkeit der Oder wiederum hatte 2022 ermöglicht, dass Fische ausweichen konnten – aus Abschnitten mit sich verschlechterndem Wasser in sichere Bereiche, etwa saubere Nebenarme oder Uferbereiche. „Wir wissen nicht, inwieweit bei den Ausweichbewegungen individuelle Erfahrungen eine Rolle gespielt haben“, sagt Christian Wolter. So hatte etwa das Niedrigwasser im Sommer 2018 dazu geführt, dass Fische stromabwärts in die Untere Oder wanderten.

Insgesamt sind die Fischbestände in der Oder also sehr widerstandsfähig, die Tiere weisen viele Eigenschaften auf, die ihr Überleben fördern. „Befestigte Ufer und Wanderhindernisse im Wasserlauf, die bewirken, dass Fische nicht in Nebengewässer ausweichen können, schränken die Resilienz von Fischen aber deutlich ein“, sagt Christian Wolter. Wie wehrhaft Individuen und Populationen sind, hängt wesentlich davon ab, wie naturbelassen die Umgebung ist, in der sie leben. 

Text: Wiebke Peters

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