„Zunächst einmal ist es wichtig zu sagen, dass das NRL ein absolut wichtiger Schritt in die richtige Richtung ist – das wird seitens der Wissenschaft betont. Aber Flussökosysteme sind komplexe Netzwerke und ihre Vernetzung spielt eine wichtige Rolle. Daher sind klare Definitionen der zentralen Begriffe im Gesetz entscheidend, um eine effiziente Umsetzung zu ermöglichen", erklärt der IGB-Forscher Dr. Twan Stoffers, Hauptautor der Studie.
Herausforderung 1:
Entwicklung einer klaren Definition von frei fließenden Flüssen, Barrieren und Referenzgebieten
Die Entwicklung einer Definition für „frei fließende Flüsse“ mit eindeutigen Kriterien ist für die Zwecke des NRL entscheidend, da die im Gesetz häufig allgemein formulierten Gewässerschutzziele in konkrete, spezifische und messbare Ziele für die Umsetzungspraxis übersetzt werden müssen. Die Autor*innen empfehlen daher einen Ansatz, bei dem frei fließende Flüsse als Flussnetze definiert werden, in denen die Funktionen und Leistungen der Ökosysteme nicht durch menschliche Veränderung des Flussnetzes beeinträchtigt werden. Dieser Zustand ist durch die ungehinderte Bewegung und den Austausch von Wasser, Energie, Material und biologischer Vielfalt innerhalb des Flusssystems und mit der umgebenden Landschaft gekennzeichnet. „Die Europäische Kommission hat geeignete Definitionen für die Wiederherstellung der Durchgängigkeit von Flüssen formuliert, die derzeit von der ECOSTAT-Arbeitsgruppe verfeinert werden. Diese Definitionen sollten bei den nächsten Schritten, einschließlich der Umsetzung, verwendet und nicht abgeschwächt werden“, betont Twan Stoffers.
Herausforderung 2:
Beachtung der Netzwerkstruktur und der Vernetzungsdimensionen von Flüssen
Ein Fluss ist mehr als nur seine sichtbare Oberfläche; er ist komplex in seiner Struktur, Vernetzung und Interaktion mit seiner Umgebung. Erstens sind Flüsse auf drei Arten miteinander verbunden: in Längsrichtung (flussaufwärts und flussabwärts), in Querrichtung (z.B. mit Überschwemmungsgebieten, anderen Nebengewässern und kleinen Bächen) und in der Vertikalen (Grundwasser und die Atmosphäre). Zweitens ändern sich diese Verbindungen mit dem dynamischen Verhalten des Flusses, der je nach Änderung des Abflusses und der Strömung den von ihm eingenommenen Raum vergrößern oder verkleinern kann, was als vierte Dimension der Flüsse betrachtet wird (zeitliche Konnektivität).
Obwohl dieses vierdimensionale Modell nützlich ist, bildet es die Längsdimension nicht angemessen ab: Flüsse sind keine linearen Landschaftselemente, die von der Quelle bis zum Meer einfach an Größe zunehmen. Vielmehr bilden sie hierarchisch organisierte, verästelte Netzwerke, die die umgebende Landschaft integrieren.
„Wir wissen, dass dies die Umsetzungsplanung potenziell komplexer macht, aber dieser Ansatz ist wichtig für die Effizienz der geplanten Renaturierungsmaßnahmen. Diese Netzwerkperspektive sollte bei der Maßnahmenplanung unbedingt berücksichtigt werden, wenn es um die Biodiversität und die Funktionsfähigkeit von Flüssen geht. Deshalb schlagen wir auch vor, eine Mindestlänge von Flussabschnitten als Renaturierungsziel für frei fließende Flüsse einzuführen“, erklärt Prof. Thomas Hein, Co-Autor und Wissenschaftler an der BOKU.
Herausforderung 3:
Integration des Meta-Ökosystem-Konzepts in die Renaturierungsplanung
Die Berücksichtigung der Herausforderungen 1 und 2 bei der Umsetzung der NRL hilft, frei fließende Flüsse und Renaturierungsziele zu definieren und die Beschaffenheit von Flussnetzwerken zu berücksichtigen. Um jedoch die ökologische Dimension frei fließender Flüsse vollständig zu integrieren, müssen Renaturierungsvorhaben die Konnektivität und Interaktionen innerhalb und zwischen aquatischen Systemen sowie deren Ufer- und Landumgebungen berücksichtigen. Dies erfordert ein Verständnis der ökologischen Prozesse auf verschiedenen Skalen und ihre jeweilige Reaktion auf Eingriffe in Flusssysteme. So lassen sich geeignete Strategien für die Renaturierung und die Erfolgsmessung entwickeln, die auf wichtige Faktoren wie den Klimawandel, die Fragmentierung von Flüssen oder den Verlust kritischer Lebensräume abzielen. Darüber hinaus ist das Schaffen von Wanderkorridoren, Verbindungen zwischen Flüssen und Auen sowie den passenden Lebensräumen für vielfältige Artengemeinschaften entscheidend für den Schutz vieler Süßwasserarten.
Das Meta-Ökosystem-Konzept, das die Vernetzung und die Wechselwirkungen innerhalb und zwischen Flusslandschaften explizit berücksichtigt, sollte die europäischen Bemühungen zur Renaturierung von Flüssen leiten. Dies erfordert eine großräumige Planung und Zusammenarbeit, vorzugsweise auf der Ebene von Landschaften und Einzugsgebieten. „Solche Renaturierungsmaßnahmen können die Widerstandsfähigkeit gegenüber extremen Dürre- und Hochwasserereignissen erhöhen, die aufgrund des Klimawandels voraussichtlich häufiger auftreten werden“, erläutert Thomas Hein.
Herausforderung 4:
Priorisierung von Maßnahmen für mehr Qualität und Quantität frei fließender Flüsse
© David Ausserhofer/IGB
„Die Wiederherstellung von zusätzlichen 25.000 km frei fließender Flüsse wird nicht ausreichen, um den Rückgang der Süßwasserbiodiversität aufzuhalten, geschweige denn umzukehren. Aufgrund der relativ geringen Anzahl der zu renaturierenden Flüsse sollte sich die Umsetzung daher auf Gebiete konzentrieren, in denen die Wiederherstellung die größten positiven Effekte für die Ökologie, Biodiversität und Ökosystemleistungen hat. Tatsächlich macht es wenig Sinn, der Wiederherstellung geschädigter Systeme Priorität einzuräumen, während gleichzeitig naturnahe oder unberührte Systeme weiter geschädigt werden.“
Prof. Dr. Sonja Jähnig
In Verbindung mit ihren Empfehlungen zu den Herausforderungen 1 bis 3 raten die Wissenschaftler*innen zur Anwendung eines Priorisierungsansatzes. Dieser sollte nicht nur die geographische Lage, die Einfachheit der Wiederherstellung und wirtschaftliche Faktoren berücksichtigen, sondern auch die zu erwartenden ökologischen Ergebnisse.
„Um es klar zu sagen: Die Wiederherstellung von zusätzlichen 25.000 km frei fließender Flüsse bis 2030, um das EU-Ziel für die biologische Vielfalt zu erreichen, wird nicht ausreichen, um den Rückgang der Süßwasserbiodiversität aufzuhalten, geschweige denn umzukehren. Aufgrund der relativ geringen Anzahl der zu renaturierenden Flüsse sollte sich die Umsetzung daher auf Gebiete konzentrieren, in denen die Wiederherstellung die größten positiven Effekte für die Ökologie, Biodiversität und Ökosystemleistungen hat“, erklärt Prof. Dr. Sonja Jähnig, Mitautorin und Wissenschaftlerin am IGB. Laut NRL sollen sich die Renaturierungsvorhaben in erster Linie auf veraltete Querbauwerke konzentrieren, die nicht mehr für die Erzeugung erneuerbarer Energien, die Binnenschifffahrt, die Wasserversorgung oder andere Zwecke benötigt werden. „Diese Ziele könnten leicht erreicht und umgesetzt werden. Aber tatsächlich macht es wenig Sinn, der Wiederherstellung geschädigter Systeme Priorität einzuräumen, während gleichzeitig naturnahe oder unberührte Systeme weiter geschädigt werden“, betont Sonja Jähnig.
Herausforderung 5:
Stärkere Sensibilisierung und Beteiligung von Interessengruppen und Bürgerengagement
Nach wie vor werden Flüsse häufig als Ressource für bestimmte wirtschaftliche Interessen wie die der Rohstoffindustrie, der Landwirtschaft und der Binnenschifffahrt betrachtet. Ökologische Prozesse in Flüssen werden oft nicht wahrgenommen und nicht als integraler Bestandteil der Natur anerkannt. Das führt dazu, dass Interessengruppen und Bürger*innen sich nicht bewusst sind, dass die biologische Vielfalt und die Intaktheit von Ökosystemen in Binnengewässern die Grundlage für die Ökosystemleistungen bilden, die wir Menschen nutzen.
„Die Einbindung von Interessengruppen ist besonders wichtig, um die spezifischen menschlichen Bedürfnisse für jedes Flusssystem zu verstehen und somit eine erfolgreiche Flussrenaturierung zu ermöglichen. Deshalb empfehlen wir die vollständige Einbeziehung aller Interessengruppen in die Erhaltungs- und Renaturierungsbemühungen: politische Entscheidungsträger*innen, Behörden, Flussgebietsmanager*innen, Schutz- und Nutzerverbände sowie die breite Öffentlichkeit“, sagt Twan Stoffers.
Herausforderung 6:
Berücksichtigung von Konfliktbereichen mit anderen Rechtsvorschriften
Die Lösung von Konflikten und die Suche nach räumlichen Kompromissen auf der Ebene von Flusslandschaften sind entscheidend für ein effektives Gewässermanagement und den Schutz der aquatischen Biodiversität. Dem Schutz und der Renaturierung von Gewässern wird jedoch oft nicht dieselbe Priorität eingeräumt wie konkurrierenden Interessen, z.B. der landwirtschaftlichen Produktion oder der Stromerzeugung aus Wasserkraft. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) oder die Richtlinie über erneuerbare Energien (RED), aber auch regionale Infrastrukturinstrumente der EU wie der Kohäsionsfonds stehen im Widerspruch zu den Renaturierungszielen. „Viele Erfahrungen mit der GAP haben gezeigt, dass nicht wenige EU-Mitgliedstaaten kurzfristige wirtschaftliche Gewinne über den Erhalt ihrer natürlichen Ressourcen und damit ihres Kapitals für künftige Generationen stellen“, so Twan Stoffers. Generell würden Naturschutzbedürfnisse wenig berücksichtigt, während andere sektorale Bedarfe – oft als „gesellschaftliche Bedarfe“ benannt – im Vordergrund stünden, erklären die Forschenden.
Zudem erschweren komplexe rechtliche und administrative Prozesse sowie die Abstimmung von Maßnahmen zwischen verschiedenen Mitgliedsstaaten die Umsetzung. „Ein Gesetz kann nur so gut sein wie seine praktische Umsetzung“, betont Sonja Jähnig. „Das sehen wir bereits bei der Wasserrahmenrichtlinie, die darauf abzielt, den guten ökologischen Zustand bzw. das gute ökologische Potenzial von Gewässern zu erreichen. Obwohl die Richtlinie schon vor über 20 Jahren in Kraft getreten ist, gibt es immer noch ein riesiges Umsetzungsdefizit. Aber um es positiv zu sehen: Das NRL könnte bei richtiger Umsetzung als Ansporn und Vorbild für die Aktivitäten unter der Wasserrahmenrichtlinie dienen“, erklärt Sonja Jähnig.
Zur Bewältigung von Konflikten schlagen die Autor*innen einen Verhandlungsprozess vor, der an ganzheitliche Ansätze anknüpft, die bereits in wasserarmen Regionen eingesetzt werden. Dazu gehören die Festlegung von Durchflussanforderungen und eine umfassende Planung der Wassernutzungen, um eine nachhaltige Wassernutzung und die Wiederherstellung von Ökosystemen zu gewährleisten.
Herausforderung 7:
Entwicklung von Methoden zur Identifizierung der erreichten Konnektivität in Flussnetzwerken
Um die wiederhergestellte Vernetzung zu bewerten und den kontinuierlichen Fortschritt der Renaturierung zu überwachen, schlagen die Forschenden einen integrierten Überwachungsrahmen vor, der etablierte Kenntnisse und Instrumente (wie sie bei Bewertungen gemäß der WRRL und der Naturschutzrichtlinien verwendet werden) mit innovativen Instrumenten kombiniert, die die Dynamik von Meta-Ökosystemen und Meta-Gemeinschaften auf der Ebene der Flusslandschaft vollständig berücksichtigen. So könnten beispielsweise Fernerkundungsanwendungen und Satellitenbilder wie der Copernicus-Datensatz genutzt werden, um hochauflösende Lebensraumkarten zu bereitzustellen. Diese Karten könnten Funktionen für das Monitoring der Landnutzung und der Lebensraumflächen bieten – insbesondere dort, wo menschliche Infrastruktur (Deiche, Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken und Städte) die Flusslandschaften durchschneidet oder stört.
Im Hinblick auf die biologische Vielfalt schlagen die Wissenschaftler*innen vor, die methodischen Fortschritte bei der Erhebung von Umwelt-DNA (eDNA) zu nutzen, die inzwischen eine Bewertung der biologischen Vielfalt von Flusslandschaften ermöglichen. „Zweifellos wird es schwierig sein, verschiedene Arten von Daten in ein so breites oder noch breiteres Monitoringkonzept wie das oben beschriebene zu integrieren. Aber wir sind zuversichtlich, dass die ehrgeizigen Ziele des NRL bei der Konzeption geeigneter Monitoringmethoden einen ambitionierten und unvoreingenommenen Ansatz verdienen“, sagt Twan Stoffers. „Generell sollten die Monitoringdaten und -berichte öffentlich zugänglich sein, damit die an der Renaturierung Beteiligten sowie die Bewirtschaftenden der Flusseinzugsgebiete, die politischen Entscheidungsträger und die Mitgliedstaaten auf die neuesten Ergebnisse zugreifen und reagieren können, wenn der Renaturierungserfolg gefährdet ist.“