Fokus
Angelina Tittmann

Ein superfeines Netz für Flüsse

Wie hängen der Artenreichtum und die Eigenschaften von Fließgewässern weltweit zusammen? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein Team um IGB-Wissenschaftler Sami Domisch. Die Forschenden haben eine Karte von Flusssystemen weltweit entwickelt, die so hochaufgelöst ist wie keine zuvor. Sie bietet eine Grundlage für genauere Analysen darüber, was flussgebundene Lebensräume ausmacht und wie sie zusammenhängen.

Anders als bisherige Datensätze bildet Hydrography90m auch kleinere und kleinste Arme von Fließgewässern ab. Das Bild zeigt eine 3D-Visualisierung des Flussnetzes in einem Tal am Comer See (Italien). | Abbildung: Sami Domisch/IGB

Flüsse sind die „Lebensadern“ aller Landmassen auf der Erde. Das zeigt auch die Karte, die Sami Domisch gemeinsam mit weiteren Forschenden vom IGB und der Yale University entwickelt hat: Über alle Kontinente erstreckt sich ein fein verästeltes Netzwerk potenzieller Flussabschnitte. Die Karte basiert auf dem „Hydrography90m“-Datensatz, den die Forschenden binnen zweieinhalb Jahren am Supercomputer der renommierten US-amerikanischen Hochschule erstellt haben. Nun ist diese Karte nicht die erste ihrer Art. Um Flüsse und ihre Verbreitung über den Globus darzustellen, existieren bereits verschiedene Modelle. Sie alle fußen auf satellitengestützt gewonnenen Daten topographischer Reliefs: Wo sich in der Landschaft Einschnitte mit bestimmten Eigenschaften befinden, fließt potenziell auch ein Wasserlauf. Doch keiner der bisher verwendeten Datensätze ist so kleinteilig wie Hydrography90m.

„Wir haben ein hochauflösendes Geländemodell der Erde genommen und daraus mithilfe von Open-Source-Software das Flussnetz extrahiert. Hydrography90m bildet, anders als die bisherigen Datensätze, auch kleinere und kleinste Arme von Fließgewässern ab“, berichtet Sami Domisch. Die Genauigkeit lässt sich am Namen ablesen: 90 Meter Länge beträgt die kleinste Einheit. Da kleine Flüsse mit etwa 70 Prozent den größten Anteil am weltweiten Flussnetzwerk haben, sind sie besonders bedeutsam für flussgebundene Artenvielfalt.

Den wahrscheinlichen Abfluss errechnet ein Modell aus Umweltparametern

Der Datensatz umfasst insgesamt 726 Millionen potenzielle Flussabschnitte. Der Begriff „potenziell“ ist entscheidend: „Wo wirklich ein Fluss fließt, wissen wir erst einmal nicht“, sagt Sami Domisch. Er und sein Team modellieren aktuell die Abflüsse, um Flüsse zu identifizieren, die tatsächlich – ganzjährig oder zeitweise – Wasser führen. Dazu nutzen sie die Daten von weltweit 30.000 Messstationen, an denen über viele Jahre Wassermengen in definierten Flussabschnitten gesammelt wurden.

Daneben können die Forschenden auf flächendeckend vorliegende Daten zu verschiedensten Umweltparametern zugreifen, etwa Niederschlag, Temperatur, Landnutzung, Bodenbeschaffenheit und Hangneigung. Im Modell werden diese Parameter mit den jeweiligen gemessenen Wassermengen in Beziehung gesetzt. „Dabei arbeiten wir mit maschinellem Lernen, das heißt, unser Modell kann mit jedem weiteren Datensatz immer besser erkennen, welche Parametergrößen mit welchen Wassermengen zusammenhängen“, erläutert Giuseppe Amatulli, Erstautor der Studie. Funktioniert das Modell, kann es auf sämtliche Flussabschnitte weltweit angewendet werden, auch wenn diese über keine Messstation verfügen: Aus den flächendeckend vorliegenden Umweltparametern errechnet das Modell dann den wahrscheinlichen Abfluss, also die Wassermenge im Fluss.

Um das Modell zu validieren, also zu erkennen, ob es korrekt arbeitet, „füttern“ die Forschenden es im ersten Schritt mit 70 Prozent der vorhandenen Wassermengen-Datensätze. Das so geschulte Modell erhält anschließend die Aufgabe, aus den Umweltparametern der restlichen 30 Prozent die passenden Wassermengen zu ermitteln. Stimmen diese ausreichend mit den tatsächlich gemessenen Werten überein, funktioniert das Modell – falls nicht, kann es nachgebessert werden. Systematische Modellabweichungen können allerdings auch bedeuten, dass bestimmte Parameter, zu denen die Forschenden keine Daten haben, eine wichtige Rolle spielen, etwa die Wasserentnahme durch den Menschen. Mit dem angepassten Modell lassen sich die Abflüsse aller Flussabschnitte weltweit ermitteln. „Gerade in trockenen Regionen gibt es vermutlich deutlich weniger Flüsse mit Wasser, als unser Datensatz vermuten ließe“, sagt Sami Domisch. Das legt auch eine Studie nahe, deren Autor*innen den gröberen HydroRIVERS-Datensatz nutzen. Sie schätzen, dass nur etwa 60 Prozent der Flüsse weltweit zeitweise oder stets Wasser führen.

Das Modell erlaubt Antworten auf Schlüsselfragen: Wie lang sind Flüsse, die ständig oder zeitweise Wasser führen? Wo liegt eine hohe, wo eine geringe Flussdichte vor? Und wie beeinflusst dies die Artenvielfalt? Detaillierte Aussagen darüber sind auch deshalb möglich, weil Hydrography90m Einzugsgebiete von Flussabschnitten sehr kleinteilig erfasst. Da für diese jeweils 5 Hektar großen Einzugsgebiete bereits Umweltdaten vorliegen, kann man diese jetzt schon nutzen, um Vorkommen von Artengemeinschaften zu charakterisieren, etwa mit welchen Klimadaten oder mit welcher Hangneigung sie verbunden sind. Mediterranes Klima beispielsweise herrscht auf der Erde an verschiedenen Orten, neben dem Mittelmeereinzugsgebiet etwa auch an einigen Abschnitten der Westküste der USA. Analysiert man dort die Artenzusammensetzung, lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Biogeographie dieser Habitate, also darauf, welche Umwelteinflüsse das Vorkommen der Arten mitbestimmen. Und das ist erst der Anfang: „Sobald wir wissen, wo wieviel Wasser fließt, lassen sich detaillierte Analysen zu flussgebundenen Habitaten weltweit bis in die kleinsten Flussärmchen machen“, freut sich Sami Domisch. Und zwar auch in Ecken des Globus, die für Menschen kaum zugänglich sind.

Die zugehörige Publikation > wurde in der Fachzeitschrift Earth System Science Data (ESSD) veröffentlicht. Die Daten > sind ebenfalls abrufbar.

Ansprechpersonen

Sami Domisch

Forschungsgruppenleiter*in
Forschungsgruppe
Globale Süßwasserbiodiversität

Marlene Schürz

Doktorand*in
Forschungsgruppe
Globale Süßwasserbiodiversität

Jens Kiesel

Gastwissenschaftler*in
Forschungsgruppe
Aquatische Ökogeographie