Als im Sommer 2022 die ersten Berichte und Bilder von toten Fischen in der Oder publik wurden, dachte zunächst niemand an eine Salz- und Stillwasser liebende Giftalge. Schnell kam aufgrund der gemessenen Wasserparameter im IGB der Verdacht auf, dass Algen eine Rolle spielen könnten. Mit Unterstützung internationaler Partner konnte das IGB dann die Gift produzierende Mikroalge Prymnesium parvum als Auslöser des Fisch- und Muschelsterbens identifizieren.
Die Massenentwicklung der Mikroalge mit mehr als einhundert Millionen Zellen pro Liter wäre unter natürlichen Bedingungen nicht möglich gewesen. Sie wurde erst durch die Kombination von länger wirkenden und akuten Ereignissen ausgelöst – die dauerhaft hohe Salzbelastung und Nährstoffkonzentration, die Verringerung der Fließgeschwindigkeit durch Stauhaltungen und akute klimatische Einflüsse wie viele Sonnenstunden, hohe Luft- und Wassertemperaturen und geringe Wasserführung. Damit ist die Oder ein Paradebeispiel für zusammengesetzte ökoklimatische Ereignisse, d.h. für das Zusammenwirken von (menschengemachten) Umweltveränderungen und Klimafaktoren.
Umweltkatastrophe schwer vorhersehbar: Ursachen-Puzzle statt Einzelereignis
„In unserer Wahrnehmung von Umweltkatastrophen sind wir es gewohnt, an einen zentralen Auslöser zu denken – zum Beispiel ausgelaufenes Öl oder freigesetzte Chemikalien. Die Oderkatastrophe von 2022 hat aber eindrucksvoll gezeigt, dass es oft das Zusammenwirken mehrerer Stressoren ist, das eine Katastrophe auslösen kann. Die Katastrophe ist dann oft schwerer vorhersehbar, weil das komplexe Zusammenspiel die Risikoabschätzung erschwert. Es ist daher immer sehr riskant, unsere Ökosysteme diesen vielen gleichzeitigen Belastungen auszusetzen, wie es an der Oder geschehen ist und immer noch geschieht“, sagt Jan Köhler, Erstautor der Datensynthese.
Die Einflussfaktoren der Oderkatastrophe im Detail
Der Salzgehalt
Im oberen Einzugsgebiet der Oder hat der Bergbau in Oberschlesien über viele Jahre zu intensiven Einleitungen von salzhaltigen Grubenwässern geführt, die aber durch nationale Rechtsvorschriften zulässig sind. In der Regel handelt es sich um gewöhnliches Kochsalz. Die Leitfähigkeit (als Maß für den Salzgehalt, gemessen in Microsiemens/Zentimeter) des Oderwassers (bei Frankfurt/Oder) lag zwischen 2012 bis 2022 zwischen 401 bis 2000 Microsiemens pro Zentimeter (µS/cm). Jedoch ist anzumerken, dass 2000 µS/cm der Maximalwert ist, den der Sensor messen kann. Außerdem als Hintergrundinformation: Der rechtliche Grenzwert für die Leitfähigkeit liegt bei 850 µS/cm. „Die höhere Leitfähigkeit durch die Einleitung von Natriumchlorid wurde in den vergangenen Jahren jedoch wenig beachtet, da der Salzgehalt zwar deutlich über den für große Süßwasserflüsse typischen Werten von 300 bis 800 µS/cm lag, aber für Wasserorganismen nicht gefährlich erschien“, sagt IGB-Forscher Christian Wolter, Mitautor der beiden gerade veröffentlichten Studien.
Einige Nebenflüsse der Oder überschritten im Sommer 2022 Leitfähigkeitswerte von 20.000 µS/cm. Der Hauptstrom der Oder lag im Sommer 2022 zwischen 1000 bis 2000 µS/cm; zwischen dem 6. und 14. August deutlich über 2000 µS/cm. Das entspricht einem Salzgehalt von 1 Gramm pro Liter (g/L); Brackwasser liegt zwischen 0,5 und 3 g/L. Stichproben vom 16. August 2022 zeigten, dass Kochsalz mit 0,7 g/L das vorherrschende Salz war. Vorindustrielle Werte oder natürliche Salzgehalte lassen sich mangels historischer Daten und auch wegen der vielfältigen Einleitungen nicht ermitteln. Dort, wo die Oder auf den ersten Kilometern an der polnisch-tschechischen Grenze noch relativ unbeeinflusst ist, liegt der Basiswert jedoch unter 500 µS/cm.
Die Alge P. parvum toleriert zwar ein breites Spektrum an Salzgehalten, die untere Wachstumsgrenze liegt jedoch zwischen 0,5 und 1 g/L, was einer Leitfähigkeit von etwa 1000-2000 µS/cm entspricht.
„Massenentwicklungen der Goldalge wären also unter dem natürlichen Salzgehalt des Flusses unmöglich. Und selbst, wenn P. parvum einen niedrigeren Salzgehalt tolerieren würde, hätte die Alge einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Süßwasseralgen und es könnte daher nicht zu dieser Blüte kommen“, erklärt Jan Köhler. Derzeit liegt der Salzgehalt in der Oder immer noch bei 0,7 bis 1 g/L weil die Ursachen nicht beseitigt wurden.
Nährstoffüberschüsse: Nitrat und Phosphat
P. parvum ist eine räuberische Alge – sie kann neben der Photosynthese auch Energie gewinnen, indem sie mit ihrem Gift andere Kleinlebewesen tötet und deren Zellinhalt aufnimmt. Das bedeutet, dass sie nicht nur auf die Nährstoffe aus dem Wasser angewiesen ist. Hohe Nitratkonzentrationen im Wasser, beispielsweise durch Düngemitteleinträge aus der Landwirtschaft oder Einleitungen von Kläranlagen, fördern jedoch ihr Wachstum.
In der Oder waren die Nitratkonzentrationen im Jahr 2022 mit bis zu 5 Milligramm pro Liter (mg/L) sehr hoch, kurz vor der Algenblüte Anfang August lag der Wert bei etwa 1,2 mg/L. Natürliche Nitratkonzentrationen in Flüssen liegen bei etwa 0,1 mg/L. Der Phosphatgehalt war während der Algenblüte 2022 mit 0,01 bis 0,34 mg/L vergleichsweise niedrig und wurde zeitweise durch das Algenwachstum weitgehend aufgebraucht. „Nitrateinträge aus dem Umland werden bei geringer Wasserführung nur wenig verdünnt und können sich in Stauhaltungen anreichern. Das kann dann das Algenwachstum stark fördern“, sagt Jan Köhler. Derzeit liegen die Nitratwerte bei etwa 1 bis 2 mg/L.
Wassermangel
Der Wasserfluss in Volumen pro Zeiteinheit – in der Hydrologie als Durchfluss bezeichnet – war im Sommer 2022 anhaltend auf einem Tiefstand. Am Pegel Eisenhüttenstadt betrug der Durchfluss in den Monaten Juni bis August 2022 rund 85 Kubikmeter pro Sekunde (m³/s) und lag damit wenig über dem niedrigsten beobachteten Durchfluss (63,6 m³/s am 31.08.2015) und deutlich unter dem langjährigen mittleren Niedrigwasser (123 m³/s). Dies entspricht weniger als einem Drittel des mittleren Durchflusses für diese Tage in den Jahren 2000 bis 2021.
Der geringe Durchfluss führte zu einer schwächeren Verdünnung der eingeleiteten Abwässer, Salze und Nährstoffe. Außerdem verlangsamte sich die Fließgeschwindigkeit, was ebenfalls die Verdünnung verringerte und die Massenentwicklung von Algen begünstigte. Aktuell liegt der Durchfluss aufgrund der hohen Niederschläge in der ersten Jahreshälfte bei 110 m³/s, Tendenz fallend.
Hohe Temperaturen
Im Sommer 2022 führten eine sich im Frühjahr anbahnende Dürreperiode und überdurchschnittlich hohe Temperaturen (Referenzzeitraum 1991-2020) im Juli zu einer ausgeprägten Trockenheit und Hitzewelle in Mitteleuropa. Im Juni bis August 2022 lagen die Tagesmittelwerte der Lufttemperaturen in Frankfurt/Oder bei 21,9 Grad Celsius (°C), die Wassertemperatur bei 23,7 °C.
P. parvum zieht zwar Salz- und Brackwasser vor, wächst aber auch in Seen und Stauseen in einem weiten Temperaturbereich von 10 bis 30 °C. In Fließgewässern sind jedoch optimale Temperaturbedingungen zwischen 25 bis 30 °C erforderlich, damit die Wachstumsraten der Alge die Verdünnungseffekte durch die Wasserströmung übertreffen. Diese Temperaturen wurden im Sommer 2022 in der Oder vor allem in den Stauhaltungen ab Mitte Juni über einen längeren Zeitraum erreicht. Die Wassertemperatur hatte in diesem Jahr schon die 27 °C Marke geknackt, liegt aktuell aber aufgrund der Niederschläge und der damit verbundenen Abkühlung wieder unter 24°C.
Flussregulierung und Stauhaltungen
Eine starke Regulierung des natürlichen Abflusses sowie Stauhaltungen sind wichtige Einflussfaktoren für die Entwicklung von Algenblüten in Fließgewässern. Nur das „Vorbrüten“ in einer Stauhaltung konnte zu der Algenblüte in der Stromoder führen. Der Gewässerbereich mit der erforderlichen langen Verweilzeit war wahrscheinlich Żelazny Most, der die salzhaltigen Grubenwässer der Kupferbergbaue sammelt und auch in die Oder ablässt. Dies lassen Satellitenbildern vermuten. Tatsächlich wurden dort und im Kanal Gliwice im Juli und August 2022 hohe Konzentrationen von Chlorophyll a beobachtet. Dieser grüne Pflanzenfarbstoff, der für die Photosynthese benötigt wird, gilt als Indikator für das Algenwachstum in Gewässern. Gleichzeitig ermöglichten die Niedrigwasserbedingungen im Unterlauf der Oder ein anhaltendes Wachstum von P. parvum, das sich in der Stromoder fortsetzte, wie die Indikatoren des täglichen Stoffwechsels (pH-Wert, gelöster Sauerstoff) zeigen.
Wie genau die verschiedenen Stressoren bei einer Massenentwicklung und Giftbildung von P. parvum zusammenwirken, wird aktuell am IGB im Rahmen des Projekts ODER~SO mithilfe von Gewässerproben aus der Oder sowie an Zellkulturen untersucht. Dabei hilft auch, dass IGB-Forschende kürzlich das komplette Erbgut des Algenstamms in der Oder entschlüsselt haben und dabei die Gensequenzen identifizieren konnten, die für die Giftbildung verantwortlich sind.
Wie es den Tieren in der Oder heute geht: Nur noch halb so viele Fische und 60 Prozent weniger Muscheln
Da das IGB seit 1998 mindestens dreimal im Jahr die Oder in der Strommitte und am Ufer zu Forschungszwecken befischt, kennt das Team um Dr. Christian Wolter die dynamische Entwicklung der Fischbestände in der Oder sehr genau. Mit diesen Langzeitdaten war es überhaupt erst möglich, das Ausmaß des Fischsterbens in Relation zum früheren Zustand zu setzen.
Schätzungsweise 1.000 Tonnen Fisch sind im Sommer 2022 in der Oder verendet. Diese Zahl wurde aus der Sammlung von mehr als 249 Tonnen toter Fische hochgerechnet, die von Freiwilligen entlang eines 160 Kilometer langen Flussabschnitts in Polen und Deutschland abgesammelt wurden.
Bei der Bestandsaufnahme der Fische und Muscheln nach der Katastrophe betrachteten die Forschenden sowohl die Dichten der verschiedenen Arten als auch ihre Verteilung in den verschiedenen Lebensräumen des Flusses. „Die beiden Säulen der Resilienz – Widerstandsfähigkeit und Erholung – werden bei Fischbeständen durch Zufluchtsmöglichkeiten und Ausbreitung ermittelt, die wir in unseren Betrachtungen beide ausdrücklich berücksichtigt haben“, erklärt Christian Wolter.
Die Fischdichten nahmen in allen untersuchten Habitaten mit Ausnahme der Uferbereiche der unteren Oder deutlich ab. Die mittlere Oder war im Vergleich am stärksten betroffen mit einem relativen Rückgang von ca. 55 Prozent bei allen Arten und in allen Habitaten, allerdings in der Strommitte stärker als an den Ufern. Die Fischdichten typischer Arten des Mittel- und Unterlaufs wie Brachse (Abramis brama), Kaulbarsch (Gymnocephalus cernua) und Barbe (Barbus barbus) gingen sogar um mehr als 70 Prozent zurück. Neben den Fischen waren auch die Mollusken - Muscheln und Kiemenschnecken - stark betroffen: Zwischen 47 und 83 Prozent der Muscheln (Gattungen Anodonta und Unio) und etwa 90 Prozent der Schnecken wurden an einigen Stellen dezimiert. Im Mittel starben 63 Prozent der Muscheln.
Hinsichtlich der Verteilung zeigte sich, dass die Fische auf die toxische Algenblüte reagierten und, wo möglich, andere Lebensräume aufsuchten: Barben, Kaulbarsche und Zander wanderten von der Flussmitte an die Ufer, die meisten Arten in flussabwärts gelegene Abschnitte. Dieses Verhalten lässt sich von den Fangzahlen und -orten ableiten.
Implikationen für das Management an der Oder
Christian Wolter ordnet die Ergebnisse ein: „Diese Ausweichmöglichkeiten sind entscheidend für das Überleben und die Erholung der Fischbestände. Das zeigt, wie wichtig Uferstrukturen und Auen als Rückzugsräume für Fische sind und wie entscheidend eine gute Längsdurchgängigkeit der Flüsse ist. Um die Resilienz des Flusses zu stärken, müssen kurzfristig die Nährstofffrachten und die Leitfähigkeit reduziert werden, insbesondere während längerer Niedrigwasserperioden. Um dies zu erreichen, müssen die Einleitungsgenehmigungen von einer Regulierung der Frachten wie bisher auf eine Begrenzung der maximal zulässigen Konzentrationen im Gewässer umgestellt werden. Die Komplexität dieses katastrophalen Ereignisses macht deutlich, dass das derzeitige Management der Flüsse dringend überdacht werden muss. Widerstandsfähige Flüsse sind das Rückgrat einer klimaresilienten Landschaft. Sie hingegen weiter für die Schifffahrt auszubauen oder mit aller Härte wasserwirtschaftlich zu unterhalten, ist nicht nachhaltig und schwächt den Landschaftswasserhaushalt. Wir plädieren daher für ganzheitliche Ansätze im Gewässermanagement, um das Risiko ökoklimatischer Katastrophen zu mindern.“
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