Fokus
Angelina Tittmann

Ansteckendes Verhalten

Soziale Konformität bei Tier und Mensch kann nützlich sein, aber auch gefährlich werden
Verhaltensforschung bei Tieren ist faszinierend, auch deshalb, weil wir dabei etwas darüber lernen, wie wir Menschen als soziale Wesen miteinander agieren. Verhaltensbiolog*innen am IGB beschäftigen sich intensiv mit den Fragen, auf welche Weise Gemeinschaften, etwa Fischschwärme, Entscheidungen treffen und welche Faktoren Individualität beeinflussen. Aktuelle Forschungserkenntnisse zeigen, dass Verhalten „ansteckend“ sein kann, welche Rolle Antizipation bei kollektiven Entscheidungen spielt – und dass auch genetisch identische, unter gleichen Bedingungen aufgezogene Individuen unterschiedliche Charaktermerkmale entwickeln können.

Menschen sind anpassungsfähig – auch wenn es um den Regelbruch geht. | Foto: Orbon Alija auf iStock

Menschen sind soziale Wesen, viele Tierarten auch – zum Beispiel Fische. Sie stehen im Mittelpunkt einiger Forschungsarbeiten am IGB, denn an Fischschwärmen lassen sich bestimmte Eigenschaften biologischer Systeme besonders gut studieren. Zum Beispiel die schnelle Ausbreitung von Informationen: Wie schaffen es die Tiere, sich im Wasser synchron zu bewegen, auch bei Änderungen der Bewegungsrichtung? Dieser Frage ging ein Team aus der IGB-Forschungsgruppe Schwarmverhalten gemeinsam mit Forschenden des Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ der Humboldt-Universität zu Berlin in einer Untersuchung nach. Die Forschenden konnten nachweisen, dass Fische in der Lage sind, Aktionen ihrer Artgenossen zu antizipieren.

Robo-Fisch mit natürlichen Artgenossen

Mithilfe eines Roboterfischs konnten Forschende zeigen, dass Guppys das Verhalten des künstlichen Artgenossen antizipieren und sowohl die Richtung als auch die Dynamik seiner Bewegungen vorhersehen können. | Foto: David Bierbach

Das Team nutzte einen Roboterfisch, um zu zeigen, dass Guppys das Verhalten des künstlichen Artgenossen antizipieren und sowohl die Richtung als auch die Dynamik seiner Bewegungen vorhersehen können. Der Roboterfisch schwamm immer die gleiche Zickzackbahn im Versuchsbecken ab, die in einer der Ecken endete. Das gab den lebenden Fischen die Möglichkeit, in drei aufeinanderfolgenden Versuchen sowohl die Lage des Endziels als auch die spezifischen Drehungen des Roboters zu erlernen: Im dritten Versuchsdurchgang erreichten sie die Zielecke des Roboterfischs deutlich früher als der Roboter selbst. „Die Ergebnisse zeigen, dass Fische in der Lage sind, das Verhalten von Sozialpartnern zu antizipieren und durch Training sogar besser darin zu werden. Dies ist also eine weitere Erklärung dafür, warum Fische im Schwarm – die sich untereinander gut kennen – zu extrem schnellen kollektiven Bewegungen fähig sind,“ resümiert David Bierbach.

Damit fanden die Forschenden eine Parallele zum Menschen: So weiß man aus Studien, dass Profis im Ballsport verschiedene Anzeichen wie Körperhaltung oder Bewegungen ihrer Mitspielenden nutzen können, um die Flugkurve oder den Auftreffpunkt des Balls vorherzusagen, noch bevor der Ball geworfen oder getreten wird. Und zwar deutlich besser als Laien. Die Antizipation ist uns Menschen zwar angeboren, kann aber durch Training und Übung verbessert werden.

Optimale Informationsausbreitung schützt vor Räubern

Eine ähnliche Fragestellung verfolgte ein Team um den HU-Forscher Luis Gómez-Nava, dem ebenfalls David Bierbach und Jens Krause angehörten. „In der Studie ging es darum, ob biologische Systeme unter bestimmten Bedingungen den Zustand der Kritikalität erreichen. Er ist unter anderem durch eine optimale Informationsausbreitung gekennzeichnet“, erklärt Jens Krause. Um dieser Frage auf den Grund gehen zu können, sind sehr viele Individuen auf engem Raum nötig. Diese Bedingung fanden die Forschenden in einem Teich in Mexiko, in dem Schwärme von Schwefelmollys (Poecilia sulphuraria) leben. „Dort konnten wir bis zu 4.000 Individuen pro Quadratmeter beobachten, etwa eine halbe Million Fische im gesamten Teich“, berichtet Jens Krause. Um zu atmen, verweilt diese Fischart in der Regel an der Wasseroberfläche, wo die Tiere allerdings Gefahr laufen, von Vögeln angegriffen zu werden. Wenn sich ein Vogel nähert oder angreift, reagieren die Fische, indem sie kollektiv abtauchen, wobei jeder Fisch mit seinem Schwanz die Wasseroberfläche berührt. Die Forschenden maßen Größe und Ausbreitung dieser Erregungswellen und speisten die Daten aus dem Feld anschließend in ein Modell. Die Modellergebnisse bestätigten, dass in bestimmten Phasen hoher Erregbarkeit tatsächlich eine optimale Informationsausbreitung und mithin Kritikalität des untersuchten biologischen Systems vorliegen. Die Ergebnisse, sagt der IGB-Forscher, seien zwar nicht direkt auf den Menschen übertragbar, aber: „Ich halte es prinzipiell für vorstellbar, dass sich auch in großen Menschenmengen Erregungswellen schnell und umfassend ausbreiten können“.

Schwefelmollys im Schwarm

Schwefelmollys schwimmen im Schwarm und verhalten sich dabei ähnlich wie ein Gehirn, das auf äußere Reize reagiert. | Foto: Juliane Lukas

Als nächstes wollen die Forschenden herausfinden, zu welchen Zeiten solche Zustände optimalen Informationsaustauschs vorliegen. „Unsere Vermutung ist, dass maximale Erregbarkeit insbesondere dann auftritt, wenn die Fressfeinde der Fische aktiv sind“, sagt Jens Krause. Das sei eventuell aber auch beeinflussbar von anderen Faktoren, etwa der Temperatur: Bei großer Hitze kostet das Abtauchen mehr Energie, die Bereitschaft dazu könnte also sinken.

Kollektives Regelbrechen bei Tier und Mensch

Zu diesen Befunden passen auch aktuelle Ergebnisse zum Thema kollektive Regelverstöße, über die Jens Krause gemeinsam mit Marcel Brass, Einstein Professor für soziale Intelligenz an der HU Berlin, eine Übersichtsstudie veröffentlicht hat. „Wir bleiben beispielsweise an einer roten Ampel stehen, weil alle anderen stehen bleiben und wir überqueren möglicherweise die Straße trotz roter Ampel, weil andere das auch tun“, beschreibt Jens Krause eine Situation, in der kollektives Regelbrechen auf kollektives Einhalten von Regeln folgt – beides als Ausdruck sozialer Konformität.

Dafür seien von der kognitiven Seite her vor allem drei Prozesse wichtig: Ablenkung, Nachahmung und Änderung der Bewertung. „Mit Ablenkung ist gemeint, dass die individuelle Aufmerksamkeit von der Regel auf die Reaktion der anderen gezogen wird. Die Gruppe beeinflusst die Wahrnehmung und lenkt die Aufmerksamkeit. Ein solcher Einfluss kann die Informationsgrundlage für die Entscheidung des Einzelnen bilden, im Einklang mit der Gruppe zu handeln“, erklärt Jens Krause. Wenn wir eine rote Ampel überqueren, weil andere das auch tun, sind wir möglicherweise durch die Gruppe so abgelenkt, dass wir die Ampel nicht beachten. 

Nachahmungseffekte beschreiben das Phänomen, dass Menschen bestimmte Handlungen ausführen, weil andere sie auch ausführen. Dieser Mechanismus läuft motorisch-kognitiv, mithin unbewusst und automatisch ab, wobei die „Ansteckungsgefahr“ des Regelbruchs mit der Gruppengröße zunimmt. Hinzu kommt die Bewertungsänderung: „Wir deuten die Situation aufgrund des Verhaltens der Gruppe um“, sagt Marcel Brass. Dabei kämen zwei Effekte zusammen: Menschen empfinden einen Konflikt mit der Gruppe als negativ und erleben es andererseits als positiv, wenn sie gemeinsam mit der Gruppe handeln. „Was den negativen Affekt betrifft, so hat die Forschung gezeigt, dass eine andere Meinung als die der Gruppe ein Konfliktsignal im Gehirn auslöst, dessen Ausmaß vorhersagt, inwiefern Menschen anschließend ihre Meinung ändern“, erläutert der Psychologe. 

Gewalt als Folge von Gruppendynamik

Solche Verhaltensänderungen spiegelten nach heutigem Forschungswissen echte Veränderungen in der Bewertung wider. Wir tun also nicht nur so, als würden wir uns anders entschließen, wir passen tatsächlich die Entscheidungsgrundlage für unser Handeln an. Das kann problematisch werden: „Aktueller wissenschaftlicher Konsens ist, dass die situative Gruppendynamik für den Ausbruch von Gewalt zumindest notwendig und manchmal sogar ausreichend ist“, berichtet Jens Krause.

Die Mechanismen bei Tieren sind vergleichbar. Wie bei Menschen verläuft die Entscheidungsdynamik von Gruppen oft nichtlinear über Quoren: „Sobald eine bestimmte Anzahl, oder ein bestimmter Prozentsatz, von Individuen ein bestimmtes Verhalten zeigt, wird es schnell von anderen übernommen“, erläutert Jens Krause. Auch bei Tieren komme Gruppenverhalten vor, das eigentlich einen Nachteil oder sogar eine Gefahr für das Individuum bedeutet. So zeige die Studie mit dem Roboterfisch, dass sich ein Fischschwarm durch den Anführer und das von ihm induzierte Gruppenverhalten tatsächlich in die Nähe eines Raubfisches führen lässt – eine Gefahrensituation, in die sich ein einzelner Fisch nicht begeben hätte. Fische im Teich und Menschen an Ampeln, resümiert der IGB-Forscher, sind sich mitunter also gar nicht so unähnlich.

Individualität ist mehr als eine Frage der Gene und Lebensbedingungen

Kollektiv hin, Konformität her – die Stellung der Individualität bleibt derweil unangetastet und wird sogar gestärkt. So konnte ein Team mit David Bierbach und unter der Leitung von IGB-Forscher Max Wolf erstmals zeigen, dass sich genetisch identische Individuen bereits am ersten Lebenstag in ihren Charaktereigenschaften unterscheiden und dass diese frühen Charakterunterschiede das Verhalten der Tiere bis ins Erwachsenenalter maßgeblich prägen.

Die Forschenden untersuchten das Verhalten von Amazonenkärpflingen (Poecilia formosa). Diese Fische pflanzen sich auf natürliche Weise klonal fort. Die Nachkommen sind also Kopien der Mutter und damit genetisch gleich. Da die Tiere lebend geboren werden, findet auch keine Brutpflege statt. Das Team um Max Wolf konnte neu geborene Amazonenkärpflinge also ab dem ersten Tag unter identischen Bedingungen halten und zeichnete ihr Verhalten mithilfe eines hochauflösenden Tracking-Systems auf. Dabei zeigte sich, dass starke Verhaltensindividualitäten bereits am ersten Tag nach der Geburt vorhanden sind. Beispielsweise unterscheiden sich die Tiere systematisch in ihren Aktivitätsmustern. Diese Unterschiede in individuellen Verhaltensmustern blieben über die gesamten zehn Wochen des Experiments bestehen und verstärkten sich sogar allmählich. „Dies sind die ersten experimentellen Nachweise dafür, dass Individualität im späteren Leben stark von Faktoren vor der Geburt geprägt sein kann, wie der Versorgung im Mutterleib, der Epigenetik und Entwicklungsbedingungen vor der Geburt“, resümiert David Bierbach. Höhere Lebewesen können also extrem gruppenkonform agieren – und sind dennoch gleichzeitig höchst individuell.

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Berlin Science Week 2023

Der Robo-Fisch: schlaue Schwärme

Wir laden zum Mitmachen ein: Inspiriert von den Regeln, nach denen sich Fisch- und Vogelschwärme formieren, untersuchen Forschende die Komplexität sozialer Interaktionen. Der Roboterfisch, den wir auf der Berlin Science Week zeigen, integriert sich in Gruppen von lebenden Fischen und ermöglicht somit, soziale Prozesse innerhalb von Gruppen zu untersuchen. Steuern Sie den Robo-Fish selbst und testen Sie, wie gut Sie sich als „echter“ Fisch verhalten würden. Erkunden Sie kollektives Verhalten und wie es mit Robotik und künstlicher Intelligenz zusammenhängt!

Do., 9. November 2023, 18:00-23:00 Uhr
Säälchen, Holzmarkt 25, 10243 Berlin

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