Sind Arten bedroht, selten oder ausgestorben, verringern sich auch die Begegnungen und Erfahrungen, die Menschen mit ihnen machen. Das kann mit der Zeit soweit führen, dass solche Arten völlig aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden. Ein internationales Forschungsteam hat dieses Phänomen des gesellschaftlichen Aussterbens nun näher untersucht. Wie die Forschenden feststellten, hängt es von verschiedenen Faktoren ab, ob eine Art gesellschaftlich ausstirbt. Hierzu gehören die Ausstrahlung einer Art, ihre wirtschaftliche, kulturelle oder symbolische Bedeutung für die Gesellschaft und auch, ob und wie lange sie bereits ausgestorben ist, oder wie weit entfernt und isoliert ihr Verbreitungsgebiet von menschlichen Siedlungen und Aktivitäten liegt.
„Die meisten Arten sterben allerdings aus, ohne dass die Gesellschaft jemals von ihnen Notiz genommen hätte“, erläutert Tina Heger, Mitautorin der Studie und Wissenschaftlerin am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). „Das trifft beispielsweise auf viele aquatische Arten zu, die unter der Wasseroberfläche im Verborgenen leben“, ergänzt ihr Kollege Jonathan Jeschke, der ebenfalls an der Studie mitgewirkt hat. Auch viele andere Arten werden nie offiziell beschrieben, darunter insbesondere wirbellose Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen. Solche Lebewesen, die in der Gesellschaft gar nicht erst wahrgenommen werden, eint in der Regel, dass sie klein, kryptisch, uncharismatisch oder unzugänglich sind. Ihr Rückgang und ihr Aussterben bleiben deshalb oft unbemerkt.
Auch lebende Arten können in Vergessenheit geraten
Vom gesellschaftlichen Aussterben können auch lebende Arten betroffen sein. Verschiedene soziale oder kulturelle Veränderungen, zum Beispiel durch die Verstädterung und Modernisierung der Gesellschaft, können unser Verhältnis zur Natur radikal verändern und zu einem kollektiven Gedächtnisverlust führen. Ein Beispiel sind Heilpflanzen: Als die traditionelle Kräutermedizin in Europa durch die moderne Medizin ersetzt wurde, führte das vermutlich zu einem Rückgang des allgemeinen Wissens über viele Heilpflanzen.
Studien, die in Gemeinden im Südwesten Chinas und bei indigenen Völkern in Bolivien durchgeführt wurden, zeichnen ein ähnliches Bild: Dort gingen das lokale Wissen über und die Erinnerung an ausgestorbene Vogelarten verloren. Die Befragten waren nicht mehr in der Lage, diese Arten zu benennen oder sich gar an ihr Aussehen und ihren Klang zu erinnern.
Und selbst wenn Arten nach ihrem Aussterben kollektiv bekannt und auffällig bleiben oder sogar populärer werden, verändert sich doch allmählich unser Bewusstsein. Die Erinnerung an diese Arten wird ungenau – auch darauf weisen die Forschenden ausdrücklich hin.
Gesellschaftliches Vergessen erschwert den Biodiversitätsschutz
Relevant ist das vor allem dann, wenn es um den Schutz von Arten geht: Das gesellschaftliche Aussterben kann die Bemühungen um den Erhalt der biologischen Vielfalt erheblich erschweren und unsere Wahrnehmung der Umwelt beeinträchtigen. So verschiebt sich etwa die Vorstellung dessen, was wir für normal, natürlich oder gesund halten. „Ein gesellschaftliches Aussterben kann unsere Bereitschaft verringern, ehrgeizige Erhaltungsziele zu verfolgen. Es könnte zum Beispiel die öffentliche Unterstützung für Wiederansiedlungsbemühungen verringern, vor allem, wenn diese Arten nicht mehr als natürliche Bestandteile des Ökosystems in unserer Erinnerung präsent sind“, erklärt Ivan Jarić, Hauptautor der Studie und Forscher am Biologiezentrum der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Um dem gesellschaftlichen Aussterben entgegenzuwirken seien gezielte, langfristige Kommunikationskampagnen, Umweltbildung und Naturkundemuseen unverzichtbar, betonen die Autor*innen. Nur so ließe sich die Erinnerung an gesellschaftlich ausgestorbene Arten wiederbeleben, verbessern und erhalten.
In weiteren Untersuchungen möchten die Forschenden herausfinden, inwieweit das Phänomen auch zu einer falschen Wahrnehmung des Ausmaßes der Bedrohung der biologischen Vielfalt und der tatsächlichen Aussterberaten führt.