Frau Adrian, Sie sind Biologin, haben Ihren Blick aber schon früh unter die Wasseroberfläche gerichtet. Was hat Sie am Wasser fasziniert?
Rita Adrian: Ich bin da mehr oder weniger als Autodidaktin reingerutscht, denn unsere Arbeitsgruppe an der Freien Universität Berlin (FU) befasste sich damals vorrangig mit Entwicklungsbiologie und Evolution. Mein erstes Interesse am Wasser weckte die Eutrophierung von Seen, das war damals das Thema. Darüber schrieb ich meine Diplomarbeit. Später bin ich in die Nahrungsbiologie gewechselt und habe mich mit Ruderfußkrebsen auseinandergesetzt, während alle anderen Daphnien untersuchten. Ich habe mir immer gern eine eigene Nische gesucht und mich dem dann voll und ganz gewidmet.
War die Langzeitforschung auch so eine Nische, für die Sie sich über die Jahre eine einzigartige Expertise aufgebaut haben?
Im Prinzip ja. Mein erster Kontakt zur Langzeitforschung kam durch den Berliner Heiligensee, an dem Diplomanden und Doktoranden der FU Berlin seit den 1970ern Proben nahmen – so entstand über die Zeit ein wahrer Schatz an Daten. Das ist mir aber erst während meiner Postdoc-Zeit im Center for Limnology in Madison (USA) bewusst geworden, denn dort gab es ein umfangreiches Langzeit- Forschungsprogramm. Das war neu und spannend für mich. Und so habe ich die Daten vom Heiligensee später mit ans IGB genommen und mit Kollegen digitalisiert. Daraus entstand 1995 die erste Arbeit zur Klimafolgenforschung an Seen, die in Deutschland veröffentlicht wurde. Quasi nebenbei, denn mein Forschungsschwerpunkt am IGB war eigentlich die Nahrungsbiologie. Zu dieser Zeit betrieb das IGB bereits ein Langzeitprogramm am Müggelsee. Erste Anzeichen von Klimaveränderungen wurden deutlich. Da war es für mich naheliegend, die Langzeitforschung in den Kontext der globalen Erwärmung zu stellen. Also habe ich das Müggelsee-Programm zu meiner Aufgabe gemacht, und dann war ich auf einmal die „Langzeitfrau“.
Wenn Sie sich diese ersten Daten ansehen, was stellen Sie rückblickend fest?
Viele Veränderungen, die sich heute sehr deutlich manifestiert haben – etwa im thermischen Regime oder in der Temperaturentwicklung – waren damals schon im Ansatz zu sehen. Nur hat uns keiner geglaubt, dass das mit dem Klimawandel zu tun hat. Gut, unsere Zeitreihe war vergleichsweise kurz und wir waren sehr vorsichtig in unserer Interpretation. Man hat aber das Wintersignal in den Daten aus den späten 1980ern und frühen 1990ern schon ganz deutlich gesehen: kurze Eisbedeckungszeiten, frühere Algenblüten, der Temperaturtrend – die Veränderungen waren drastisch. Wenn man sich die Zeitreihen heute anschaut, springt einen das förmlich an. Heute verstehen wir natürlich viel besser, dass sich Seen rapide verändern und wie das ihre Funktion und unsere eigenen Lebensgrundlagen gefährdet.
Trotzdem ist lange nichts passiert...
Absolut, und das ist eigentlich meine große Enttäuschung. Warum gibt es jetzt erst Konzepte, die Ökologie, Wirtschaft und Soziales verbinden wie den Green Deal der EU? Das Wissen darüber liegt schon so ewig lange auf der Hand.
Wann hätte bereits gehandelt werden müssen?
Vor 30 Jahren! Aber es muss erst schlimm sein, bevor man reagiert. Der Green Deal kommt jetzt zustande, weil große Teile Europas von extremen Hitzewellen betroffen sind. In Deutschland sind die Auswirkungen nach drei extremen Sommern, die den Langzeittrend noch überlagern, in der Land- und Forstwirtschaft für jeden unübersehbar.
Warum geht das trotzdem nicht schnell genug?
Wir setzen zu stark auf den Einzelnen, aber das schaffen wir als Individuum oder als Verbraucher nicht. Hier ist die Vorsorge durch die Politik gefragt! Ich wünsche mir, dass noch vorhandene Naturräume, besser geschützt und sogar erweitert werden. Wir müssen Flächen schaffen, in denen sich Natur entwickeln kann, denn Natur hat einen inherenten Wert. Sie zu verteidigen und zu erhalten, ist vor allem eine politische Pflicht. Das ist mir in meiner wissenschaftlichen Karriere sehr bewusst geworden. Das heißt aber nicht, dass wir uns als Individuum aus der Verantwortung stehlen können.
Seit 2014 wirken Sie am IPCC-Sachstandsbericht des Weltklimarates mit, aktuell auch an der 6. Ausgabe. Welchen Beitrag leisten Sie damit?
Greta Thunberg hat politisch mehr erreicht als der IPCC-Report. Nichtsdestotrotz konnte Greta nur erfolgreich sein, weil wir Wissenschaftler all die Jahre zu diesem Thema gearbeitet und Fakten zusammengetragen haben. Das ist ganz klar. Der IPCC ist eine Erfolgsgeschichte, auch wenn die Umsetzung schwierig und mangelhaft ist. Früher wurden wir immer angezählt, unsere Sprache sei nicht verständlich. Aber dieses Argument zählt nicht mehr. Wir machen als wissenschaftliche Community unseren Job. Es liegen sehr gute Konzepte zum Beispiel zu Nachhaltigkeit und Transformation vor, jetzt ist die politische Umsetzung dringlich.
Was sollte Politik jetzt tun, um Gewässer besser zu schützen?
In Bezug auf die Klimafolgen sind natürlich Maßnahmen zur Eindämmung der weiteren globalen Erwärmung nötig – und da ist an erster Stelle die Reduktion der Treibhausgasemissionen zu nennen. Viele Veränderungen, die wir in Seen beobachten, sind mit Veränderungen in der thermischen Struktur verbunden, die sich aus der globalen Erwärmung ergeben. Des Weitern sind die Fragmentierung von Gewässern und nicht zuletzt die Landwirtschaft mit ihren Nährstoffeinträgen große politische Handlungsfelder.
Was kann die Klimafolgenforschung von morgen leisten?
Durch die großen globalen Netzwerke von in situ Messungen in Verbindung mit Daten, die uns moderne Satelliten liefern, können wir globale Trends heute viel besser verfolgen und verstehen. Die Datengrundlage in Raum und Zeit nimmt zu, das ist toll! Nationale und globale Initiativen, die die Verfügbarkeit von Daten verbessern, und insgesamt ein modernes Datenmanagement spielen hierbei eine große Rolle. Zudem bieten Methoden aus der künstlichen Intelligenz hervorragende analytische Werkzeuge. Da steckt sehr großes Innovationspotenzial drin.
Frau Adrian, lassen Sie uns auch noch einen Blick zurückwerfen: Sie haben 10 Jahre lang die Abteilung für Ökosystemforschung am IGB geleitet – viele Jahre waren Sie die einzige Frau in der Institutsleitung. Wie haben Sie das empfunden?
Ich komme aus einer Generation, in der Emanzipation ein großes Thema war. Und noch immer ist mir das Thema wichtig. Ich habe damals als einzige Wissenschaftlerin auf einer festen Stelle am IGB angefangen – allein unter Männern. Und das fand ich gar nicht komisch, weil das normal war. Das wurde auch nicht großartig thematisiert in der Zeit. Inzwischen ist das ein politisches Thema. Und nur der politische Druck der Quote hat etwas verbessert. Das kann man schade finden, aber das ist immer noch so.
Haben Sie selbst auch von der Quote profitiert?
Aber natürlich! Als die Stelle der Abteilungsleitung ausgeschrieben wurde, war keine Frau in der engeren Auswahl. Institutsinterne Bewerbungen waren möglich – aber aussichtslos. Die damalige Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates stoppte das Verfahren und brachte mich ins Spiel. Ich hatte die Abteilung zuvor kommissarisch geleitet und war lange stellvertretende Abteilungsleiterin gewesen. Ich wusste also, was auf mich zukommt und die Herausforderung kam für mich zur richtigen Zeit. Zwei Frauen, großartige Forscherinnen, aus dem Wissenschaftlichen Beirat haben damals gesagt: „Rita, mach das!“ Zwei Männer rieten mir davon ab. Aber ich wollte nicht immer nur meckern, dass ich die einzige Frau bin und dann kneifen.
Inzwischen wird in Abteilung 2 jede zweite Forschungsgruppe von einer Frau geleitet. Das ist der höchste Anteil am IGB und liegt weit über dem Durchschnitt in der Forschung. Ist das auch Ihr Verdienst?
Nein, das ist ebenfalls das Verdienst der Quote, durch die sich die Einstellung exzellenter Frauen beschleunigt hat! Mich hat mal ein Chef gefragt, wie man die Frauenquote am Institut verbessern könnte. Dem habe ich geantwortet: Ganz einfach, du musst diese exzellenten Frauen nur einstellen, die sind nämlich da! Ich habe immer gestaunt, dass solche profanen Dinge nicht erkannt worden sind. Aber inzwischen kann keiner mehr an der Qualifikation von Frauen vorbeigucken.
Trotzdem ist die Quote umstritten. Kritiker meinen, sie unterlaufe das Prinzip der Bestenauswahl und schade der Wissenschaft. Was entgegnen Sie denen?
Das Gegenteil ist der Fall! Wir haben bis dahin ein großes Potenzial zu wenig berücksichtigt. Und im umgekehrten Sinne haben wir die Quote doch Jahrhunderte lang gehabt. Mich ärgert das sehr, wenn wir in die Ecke gedrängt werden und jemand sagt: „Du bist nur eine Quotenfrau“. Die ganzen Männer sind doch Quotenmänner. Das ist jetzt ein bisschen gemein, aber die Männer haben Gesellschaften so lange dominiert und nun wird das endlich aufgebrochen. Das kann man dem Einzelnen zwar nicht vorwerfen. Ich finde aber, die wenigen Frauen, die es unter diesen Bedingungen dennoch geschafft haben, deren Leistung ist nicht hoch genug zu bewerten. Damit mindert man auch nicht die Leistung von Männern.
Dennoch verlassen immer noch überproportional viele Frauen nach ihrer Promotion die wissenschaftliche Laufbahn. Woran könnte das liegen?
Das ist ein vielschichtiges Thema, bei dem Familie nur ein Aspekt ist. Nicht jeder will eine Führungsposition übernehmen – bei Männern wie bei Frauen. Aber natürlich gibt es Unterschiede: Frauen sind in ihren Interessen breiter angelegt. Das ist eine große Stärke. Aber wenn du fokussiert auf etwas zustreben willst, kann das auch eine große Schwäche sein. Da sind Männer einfach besser. Als ich Abteilungsleiterin wurde, habe ich meinen Mann gefragt, ob ich das jetzt auch so machen soll wie die Männer. Er hat mich immer unterstützt und bestärkt, mein eigenes Ding durchzuziehen. Vielleicht haben wir Frauen zu lange versucht, Männer zu kopieren – das war ein Fehler. Wir müssen uns etwas zutrauen und unsere Unterschiedlichkeit einbringen. Es gibt da eine schöne Geschichte aus meiner Postdoc-Zeit...
Bitte erzählen Sie davon!
Mir sagte mal jemand: „Wenn du in der Wissenschaft erfolgreich sein willst, musst du ein Hai sein.“ Als ich zu einem Vortrag in Schweden eingeladen war, saßen wir abends in großer Runde zusammen und ich erzählte davon. Alle schauten mich an und fragten, ob ich ein Hai sei. Ich musste ein bisschen nachdenken und zugeben, dass ich das in gewisser Weise bin, ein Hai. Durch solche Geschichten ist mir klar geworden, dass man kämpferisch sein muss und darf. Zu meinem Weg gehört viel Glück, auch Zufall – aber eben auch viel Arbeit, ich habe da sehr viel Zeit und Arbeit reingesteckt.
Apropos Zeit, Sie kamen 1993 ans IGB und blieben bis heute. Was hat Sie so fest mit dem Institut verbunden?
Ich habe sehr schnell ein sehr positives Gefühl entwickelt, weil ich das Potenzial von Anfang an gesehen habe. Die verschiedenen Disziplinen und Kooperationsmöglichkeiten, die Freiheit eine eigene Gruppe aufzubauen, die Freiheit der Wissenschaft – das war mir am wichtigsten! Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Interdisziplinarität nur gut ist, wenn alle Disziplinen exzellent sind. Und das IGB hat es meist verstanden, beides zu fördern, das habe ich enorm geschätzt. Ich bin fast jeden Tag gerne ans IGB gegangen – ein tolles Institut, von dem ich viel profitiert habe. Ich blicke sehr gerne auf diese Zeit zurück.
Beim Aufräumen ist mir übrigens ein Brief in die Hände gefallen, den mir der damalige IGB-Direktor Peter Mauersberger nach meinem Vorstellungsgespräch geschickt hat. Da geht es nur darum, was ich für das Institut zu leisten habe – sehr freundlich und höflich natürlich. Aber heute ist es genau umgekehrt, da hat sich etwas ganz entscheidend verändert!
Welchen Themen und Aufgaben wollen Sie sich künftig widmen?
Alle haben gesagt: „Rita, mach keinen kalten Entzug, das ist ungesund!“ Ich bleibe noch ein Jahr am IGB und unterstütze die Organisation des großen SIL-Kongresses im Sommer 2022, mit dem die International Society of Limnology ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Darauf freue ich mich. Das gibt mir die Möglichkeit, mein Leben neu zu ordnen. Ich weiß noch nicht genau, in welche Richtung das geht. Aber ich werde nicht in der Wissenschaft wie gehabt weitermachen, sondern woanders. Da muss etwas Neues kommen – so viel ist klar!
Liebe Rita, dein Anteil am Renommee des IGB und unserem Gewicht in der Langzeit- und Klimafolgenforschung kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wir sagen Danke und sind schon gespannt, welche Nische du als nächstes für dich entdeckst. Alles Gute!