Bei der Paarung des Europäischen (Hyla arborea) und des Östlichen Laubfrosches (Hyla orientalis) im polnischen Flachland entstehen Hybrid-Frösche, die Geschlechtschromosomen von beiden Arten in sich tragen. Sie pflanzen sich vermutlich seltener erfolgreich fort, sind also nicht so fit wie ihre beiden Ursprungsarten. Das hat Dr. Matthias Stöck, Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) mit Hilfe populationsgenetischer Methoden herausgefunden. Gemeinsam mit einem internationalen Team erforscht er das Zusammentreffen der beiden Laubfrosch-Arten an der Weichsel. Für Dr. Christophe Dufresnes von der Universität Lausanne und Erstautor der Studie, die jetzt gemeinsam in Scientific Reports veröffentlicht wurde, zeigt dies erstmals, „dass die undifferenzierten homomorphen Geschlechtschromosomen dieser Laubfrösche stärker zur Evolution von neuen Arten beitragen als normale Chromosomen“.
„Wir haben große Anstrengungen unternommen und viele Nächte im Feld verbracht, um große Bereiche von Polen abzudecken, als wir die Speichelproben der beiden Laubfroscharten für die genetischen Analysen gesammelt haben“, berichtet Tomasz Majtyka, Doktorand der Abteilung Wirbeltierbiologie und Naturschutz der Universität Wroclaw und Ko-Erstautor des Artikels.
Amphibienforscher Matthias Stöck weist darauf hin, dass der Genaustausch oder Genfluss zwischen diesen beiden jungen Laubfroscharten noch nicht vollkommen unterbrochen ist, was typisch für so junge Arten sei. „Dabei findet der geringste Genaustausch über die Geschlechtschromosomen statt, da sie bei Kreuzungen dieser Frösche mit den übrigen Chromosomen der fremden Art am schlechtesten kooperieren“, sagt er. In einem bestimmten Stadium der Evolution haben diese Arten einen Punkt of no return erreicht, von dem an sie nicht mehr vollkommen mit der anderen Art verschmelzen konnten. Dieser Punkt scheint bei den Laubfröschen in Polen überschritten zu sein, ihre Geschlechtschromosomen können sich nicht mehr einfach vermischen. Später werde es dann gar keinen Genaustausch mehr geben. „Bei den von uns untersuchten Laubfröschen ist erstaunlich“, sagt Stöck, „dass es Paarungen und Hybridbildung offenbar nur im polnischen Flachland gibt, hingegen extrem selten in Griechenland, wo beide Laubfroscharten ebenfalls aufeinandertreffen; dort aber vermutlich seit deutlich längerer Zeit.“ Dort gäbe es deutlich weniger gemeinsamen Nachkommen von Hyla arborea und Hyla orientalis.
Bis 2008 ging die Fachwelt davon aus, dass es sich bei den Laubfröschen nur um eine einzige Art handelt. Damals untersuchte Stöck die Frösche molekularbiologisch und stellte fest, dass es gravierende Unterschiede gibt, die zwei Arten rechtfertigen, die seit ca. 5 Mio. Jahren getrennt sind. Der bei uns heimische Laubfrosch (Hyla arborea) ist aus dem Mittelmeerraum kommend über das Donautal nach der Eiszeit nach Mitteleuropa eingewandert. Östlich der Weichsel in Polen und der Ukraine kommt die andere Art vor, Hyla orientalis, die sich ursprünglich aus der nördlichen Türkei und Kleinasien kommend vom Schwarzen Meer östlich um die Karpaten herum nach Norden ausgebreitet hat. Bereits die alten Taxonomen hatten vermutet, dass es sich um zwei verschiedene Arten handeln könnte. Deshalb gab es auch einen alten Namen für den Östlichen Laubfrosch, den IGB-Amphibienforscher Stöck „reaktivieren“ konnte. Seitdem ist Hyla orientalis wieder in der wissenschaftlichen Welt. Beide Arten unterscheiden sich äußerlich kaum, es sind sogenannte „kryptische Arten“.
Im polnischen Flachland sind beide Arten vor weniger als 14.000 Jahren zusammengetroffen. Evolutionsbiologisch gesehen, ist das ein sehr junger Kontakt.
Doch wie bilden sich eigentlich neue Arten? Das ist eine der großen Fragen der Evolutionsbiologie. „Als Amphibienforscher möchte ich herausfinden, wie lange es bei Fröschen und Kröten dauert, bis durch geografische Isolation eine neue Art entsteht und was ihre genetische Eigenständigkeit, wir sprechen von ‚reproduktiver Isolation’, ausmacht“, sagt Stöck.
Bei den Laubfröschen hatten die Wissenschaftler das Glück, natürliche Hybridzonen vorzufinden. Die Karpaten bilden eine perfekte Trennlinie zwischen Hyla arborea und Hyla orientalis. Wenn Populationen über lange Zeit getrennt werden (Allopatrie), dann häufen sich genetische Anpassungen an die Umwelt und zufällige Mutationen an. Wichtig ist auch die genetische Drift, bei der Zufallsprozesse auf Populationsebene eine Rolle spielen. Beide Gruppen machen unterschiedliche Entwicklungen durch, vor allem dann, wenn in einer Population nur wenige Tiere überleben, also durch einen „genetischen Flaschenhals“ gehen. Etwas Ähnliches ist einst Teilen der modernen Menschheit wiederfahren, die Nachkomme von relativ weniger Individuen ist.
Im Labor sind solche Prozesse kaum nachzustellen. Frösche, die sich im Terrarium kreuzen, würden das vielleicht in der Natur nicht machen – und umgekehrt. „In natürlichen Hybridzonen finden wir natürliche Artenkomplexe vor und können die genetische Konstitution untersuchen“, sagt Stöck. „Nach unserer Schätzung sind Hyla arborea und Hyla orientalis rund 5 Millionen Jahre getrennt gewesen.“ Überwintert hat Hyla arborea die Eiszeit in den südlichen Breiten am Mittelmeer, etwa in Griechenland, und Hyla orientalis rund um das Schwarze Meer. Nach der letzten Eiszeit haben sich beide Arten wieder nach Norden ausgebreitet und schließlich im Gebiet der heutigen Weichsel getroffen.
Das landläufige Wissen zu den Geschlechtschromosomen betrifft üblicherweise Säugetiere, bei denen sich die Geschlechtschromosomen unter dem Mikroskop deutlich unterscheiden. Das männliche Y-Chromosom beim Menschen ist im Vergleich zum X-Chromosom winzig klein. Diese heteromorphen, also unterschiedlich gebauten Geschlechtschromosomen, werden bei der Fortpflanzung überwiegend nicht mehr rekombiniert. Man geht davon aus, dass sie deshalb stark degeneriert sind.
Bei Fischen und Amphibien hingegen können sich unterschiedlichste Chromosomen in die Rolle des Geschlechtschromosoms begeben oder diese wieder verlieren. In der Folge haben die Geschlechtschromosomen im Grunde nicht die Zeit zu degenerieren, wie bei Säugetieren. Die Geschlechtsbestimmung lässt sich generell vereinfacht als eine geschlechtsdeterminierende Kaskade denken: „Oben sitzt quasi das Master-Gen, das festlegt, ob der Frosch Männchen oder Weibchen wird“, sagt Stöck. Es schaltet dann Netzwerke weiterer Gene an, die schließlich den weiblichen oder männlichen Phänotyp ausbilden. Erstaunlich konserviert sind dabei die Gene, die beispielsweise die Ausbildung der Eier oder die Spermienproduktion steuern. Starke Variationen gibt es hingegen am Anfang der Kaskade, also beim Master-Gen und auch dabei, auf welchem Chromosom es sich befindet.
In Hybridzonen können Stöck und seine Kollegen anhand der Laubfrosch-Geschlechtschromosomen „Evolution in Aktion“ beobachten.