Sehr wahrscheinlich sind der Katastrophe die meisten der über 1.000 Jungstöre zum Opfer gefallen, die im Frühjahr dieses Jahres in den Fluss ausgewildert wurden. Das Fischsterben hat nach aktuellem Kenntnisstand aber auch Fische getroffen, die bis zu drei Jahre alt und bis zu 90 cm groß waren. Sie wurden im Unteren Odertal entdeckt – auf dem Weg zur Ostsee, die sie nie erreichten. „Wie viele Störe noch in der Oder schwimmen oder gestorben sind, ist derzeit nicht seriös abzuschätzen“, sagt Jörn Geßner, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Doch eines ist gewiss: Die durch Menschen verursachte Umweltkatastrophe ist ein schwerer Rückschlag für das Wiederansiedlungsprogramm, das Geßner bereits seit 1996 koordiniert.
Störe in Fluss und Aufzuchtanlagen verendet
Die toxische Welle betraf nicht nur Störe, die bereits im Fluss schwammen. Auch zwei Aufzuchtanlagen mit insgesamt etwa 20.000 Jungstören wurden von der Katastrophe getroffen. Kaum ein Stör hat dort überlebt. „Die verendeten Tiere waren erst einen Monat alt und sollten eigentlich noch im Herbst in die Oder besetzt werden, um zu helfen, dort künftig sich selbst erhaltende Bestände aufzubauen“, erklärt der Biologe. Damit sich die Tiere an ihren späteren Lebensraum und seine normale Wasserbeschaffenheit gewöhnen und eines Tages den Weg in ihre natürlichen Laichgründe finden, werden beide Anlagen mit Flusswasser gespeist. Und so wurden sie am 10. und 11. August von der Giftwelle erreicht. „Wäre frühzeitig von den polnischen Behörden gewarnt worden, hätten die Fische vermutlich gerettet werden können“, kritisiert Geßner.
Seit 2007 hat er mit vielen Partnern etwa 3,5 Millionen Jungtiere in die Oder entlassen. Bis die Tiere selbst für Nachwuchs sorgen können, vergeht viel Zeit. Im Alter von einem bis drei Jahren ziehen sie in die Ostsee, wachsen dort heran und kehren erst mit 14 bis 16 Jahren zum Laichen in ihren Heimatfluss zurück. Die bereits größeren und älteren Tiere in der Ostsee dürften daher überlebt haben. „Wir hoffen jetzt, dass nur ein kleiner Teil der Tiere aus dem Gesamtprogramm betroffen ist,“ sagt Jörn Geßner. Vor allem kleinere Fische halten sich mitunter auch in den Seitenarmen des Zwischenoderlandes auf, wo sie eventuell überlebt haben. Insbesondere im Stettiner Haff, das vom Fischsterben bisher noch weitgehend verschont geblieben ist, dürften sich Jungtiere zur Nahrungssuche tummeln.
Ungewisse Zukunft für das Wiederansiedlungsprogramm
Es ist jedoch unklar, wann die Besatzmaßnahmen im Rahmen des Wiederansiedlungsprogramms an der Oder fortgesetzt werden können. Selbst wenn die Algenblüte weiter abnimmt, müssen die Reste des Giftstoffes noch abgebaut oder ausgetragen werden, bevor erneuter Besatz möglich ist. Ungewiss ist auch, ob die Jungtiere ausreichend Nahrung finden würden. Denn neben den Fischen sind u.a. auch die Schnecken- und Muschelpopulationen im Fluss besonders stark betroffen. Inwieweit andere wirbellose Fischnährtiere betroffen sind, ist noch völlig ungeklärt. Deshalb hängt jetzt viel davon ab, wie schnell sich das Ökosystem erholt. Um das herauszufinden, würde Jörn Geßner zusammen mit weiteren IGB-Forschenden gern möglichst bald intensive Untersuchungen vor Ort vornehmen. Zeigt sich dabei, dass im Fluss nicht genug Nahrung vorhanden oder das Wasser noch immer zu stark belastet ist, könnten in diesem Jahr keine Störe mehr in die Freiheit entlassen werden. Dies hätte zur Folge, dass die verbliebenen Jungstöre mindestens bis zum nächsten Frühjahr in Fischbecken gehältert werden müssten – in diesen sollte über den Winter aber eigentlich schon die nächste Stör-Generation heranwachsen. Hier könnten dann akute Platzprobleme entstehen.
Wie sich Ökosystem und Bestände erholen können
Mittelfristig ist es vor allem wichtig, das Angebot an Laich- und Brutaufwuchsgebieten in der Oder zu erhöhen, um dem Stör – und mit ihm vielen typischen Flussfischarten – bessere Ausgangsbedingungen für eine erfolgreiche Eigenvermehrung zu schaffen, die die Bestände stabilisiert. „Viele dieser Fischarten, die in der Oder heimisch sind, laichen auf Kies. Hätte man mehr Kiesflächen, ginge ein Erholungsprozess schneller vor sich“, erklärt IGB-Forscher Christian Wolter, der seit vielen Jahren die Fischgemeinschaften in der Oder untersucht. Denn Fische haben generell ein hohes Reproduktionspotenzial und können sich auch von solchen Katastrophen relativ schnell wieder erholen, wenn die Rahmenbedingungen dafür vorhanden sind. Eine solche Hilfe zur Selbsthilfe könnte die Erholung der Bestände unterstützen und beschleunigen.
Langfristig müssten zudem mehr Nebengewässer mit dem Fluss verbunden werden, damit Ausweichrefugien entstehen. Renaturierung sei demnach die beste Krisenprävention, sind sich Jörn Geßner und Christian Wolter einig. Es brauche mehr Vernetzung des Flusses mit seinen Nebenarmen sowie mehr natürlichen Wasserrückhalt in der Aue, um über das Jahr mehr Wasser im Fluss zu haben. Intakte Flussauen sind nicht nur Wasserspeicher, sie bieten auch natürlichen Hochwasserschutz. Dem steht das Oder-Ausbauprojekt der polnischen Regierung diametral entgegen – und auch Deutschland hat sich 2015 in einem bilateralen Staatsvertrag eigentlich verpflichtet, selbst dementsprechende flussbauliche Maßnahmen an der Oder durchzuführen. Deshalb empfehlen die Wissenschaftler dringend, sofort alles zu unterlassen, was den Fluss und seine Artengemeinschaft zusätzlich belastet – vor allem die aktuellen Baggerarbeiten auf polnischer Seite, durch die u.a. giftige Altlasten wie z.B. Quecksilber aus dem Sediment ins Flusswasser gelangen könnten. Infolge dieser schweren Eingriffe verliere die Oder ihre Resilienz, also die natürliche Widerstandskraft. „Im Zuge des Klimawandels nehmen Extremwetterlagen zu, zeitgleich steigt der menschliche Nutzungsdruck immer weiter. Wenn die aquatischen Ökosysteme und ihre Lebewesen diesen Umständen standhalten sollen, dann müssen sie dafür widerstandsfähig genug sein — dies lässt sich nur über deutlich verbesserte Vielfalt der Gewässerstruktur und der Artengemeinschaften erreichen, aber nicht über rein technische Lösungen“, unterstreicht Wolter.
Ein Lichtblick – aber nicht für alle Arten
Störe haben einen großen Vorteil: Sie werden bis zu 100 Jahre alt, manchmal auch älter – wenn die Bedingungen stimmen. Andere gefährdete Arten wie der Atlantische Lachs, der Ostsee-Schnäpel und der Baltische Goldsteinbeißer, aber auch typische Flussfischarten wie Barbe, Nase oder Zährte, ebenso zahlreiche seltene Großmuschel- und Insektenarten können keine so langen Zeiträume überbrücken. Einige kommen oder kamen nur noch in der Oder vor, wie z.B. der Baltische Goldsteinbeißer. „Diese gefährdeten Arten sind nun doppelt bedroht: durch die Giftwelle, aber auch konstant durch den vorangetriebenen Oder-Ausbau und alle bereits bestehenden und noch kommende Belastungen“, sagt Christian Wolter. Es sei sogar zu befürchten, dass die einzige Population des Baltischen Goldsteinbeißers in Deutschland die Katastrophe nicht überlebt hat. Trotz Niedrigwassers und hoher Temperaturen erfolgten im Kerngebiet der kleinen Population am polnischen Ufer bei Reitwein umfangreiche Bagger- und Buhnenbau-Maßnahmen. Allein diese Arbeiten hätten den Lebensraum des Goldsteinbeißers erheblich beeinträchtigt, bevor auch noch die Giftwelle hinzukam. Nach Abklingen der toxischen Welle müsse nun erst einmal gesucht werden, ob die Tiere überhaupt noch in ihrem Lebensraum zu finden seien.
Während der Stör weiterhin auf Besatzmaßnahmen im Rahmen des Wiederansiedlungsprogramms angewiesen sein wird, die wissenschaftlich gut begründet und begleitet sind, rät Christian Wolter bei anderen Flussfischarten entschieden davon ab: „Die Population der Ostsee-Schnäpel in der Oder ist beispielsweise einzigartig und auch die Elritzen und Döbel der Oder sind eigene Arten bzw. genetische Einheiten, die durch Besatz mit gebietsfremden Herkünften geschwächt und ausgelöscht werden könnten.“ Gerade in einem Populationstief nach einem solchen Fischsterben könne Fischbesatz mit gebietsfremden Tieren zum Verlust der genetischen Identität der Oderfische führen.
Zur polnischen Übersetzung des Textes gelangen Sie hier >
Polskie tłumaczenie tekstu można znaleźć tutaj >
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Das IGB forscht und arbeitet schon seit Jahrzehnten an der Oder, insbesondere zur Flussökologie und den Fischartengemeinschaften. Zudem koordiniert das Institut das Wiederansiedlungsprogramm des Baltischen Störs im Flussgebiet. Forschende des IGB wollten deshalb herausfinden, woran Störe und andere Tiere im Fluss gestorben sind und verfolgten die Spur eines starken Gifts, das von der Algenart Prymnesium parvum gebildet werden kann. Sie konnten diese Alge und ihr Toxin massenhaft in Gewässerproben aus der Oder nachweisen. Eine solche Massenentwicklung ist kein natürliches, sondern ein vom Menschen verursachtes Phänomen, das wahrscheinlich erst durch Salzeinleitungen, große Mengen an Nährstoffen, hohe Wassertemperaturen und lange Verweilzeiten in Staustufen und im ausgebauten Fluss möglich wurde.
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