Blitzlicht
Nadja Neumann

Kein freier Fluss

Weniger als ein Viertel aller Flüsse weltweit fließt auf der gesamten Länge ins Meer, wie eine umfangreiche Studie eines großen internationalen Wissenschaftlerteams aus Mitgliedern der Naturschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) und von Forschungseinrichtungen ergab. An der Studie war die ehemalige IGB-Mitarbeiterin Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen sowie auch Klement Tockner, langjähriger Direktor des IGB maßgeblich beteiligt. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Die Vjosa entspringt im Nordwesten Griechenlands und mündet in Albanien in die Adria. Der Flusslauf der Vjosa ist bis heute von allzu großer Besiedelung und von Industrialisierung verschont geblieben. | Foto: Gabriel Singer / IGB

Das Team bezog zwölf Millionen Flusskilometer weltweit in die Studie ein.  Auf diesen Wasserstrecken zählten sie allein rund 2,8 Millionen Dämme, hinter denen Reservoire von mindestens tausend Quadratmetern Wasserfläche entstanden sind. „Das führt zur Fragmentierung des Flusslaufs und hat teilweise schwerwiegende Auswirkungen auf das ganze Flusssystem“, sagt Christiane Zarfl. Durch die Weiterentwicklung der Infrastruktur für eine steigende Zahl von Menschen seien Flüsse und ihre Ökosysteme weltweit zunehmend bedroht.

Konnektivität als Maß

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entwickelten in ihrer Studie eine neue Methode, um den Zustand eines Flusses zu beurteilen. Zentrales Maß ist dabei die Konnektivität eines Flusses mit Bewertungen zum freien Wasserfluss, zu den Bewegungsmöglichkeiten von Organismen sowie zum Transport von Sedimenten, von organischen Stoffen, von Nährstoffen und von Energie. In die umfassende Untersuchung gingen vier Dimensionen ein: in Fließrichtung, flussauf- und abwärts im Flussbett; über die Flussufer hinaus, zwischen dem Hauptbett des Flusses und der Aue; in vertikaler Richtung zwischen dem Grundwasser, dem Fluss und der Atmosphäre sowie in zeitlicher Abhängigkeit, bedingt durch Unterschiede zwischen den Jahreszeiten. Darüber beurteilte das Wissenschaftlerteam, welche Flüsse noch als frei fließend betrachtet werden können.

Die für die Ökosysteme bedrohlichen Entwicklungen setzten sich ungeachtet der Nachhaltigkeitsziele fort, die 2015 zahlreiche Nationen beim UNO-Nachhaltigkeitsgipfel in New York beschlossen und die auch den Schutz beziehungsweise die Wiederherstellung wassergebundener Ökosysteme vorsehen. Dennoch seien zurzeit mehr als 3.700 neue Dämme zur Wasserkraftnutzung in Planung, vor allem aber in Asien, in China und im Himalaja, aber auch zum Beispiel in den Balkanstaaten und im Amazonasgebiet. Zudem seien in vielen Ländern der Erde große Bewässerungsvorhaben beschlossen worden oder bereits im Bau, darunter etwa Indien, China und Brasilien. Diese Vorhaben erforderten das Ausbaggern von Flüssen, ihre Kanalisierung oder den Bau von Talsperren oder Dämmen. „Wir haben nun erstmals ein umfassendes Informationssystem mit hoher Auflösung zu den Flüssen der Erde angelegt. Es soll auch dazu dienen, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Ökosysteme und die Folgen künftiger Eingriffe deutlich zu machen“, erklärt Christiane Zarfl. Übergeordnetes Ziel sei die Erhaltung der letzten frei fließenden Flüsse der Erde.

Der Text basiert auf der Pressemitteilung der Universität Tübingen.

G. Grill, B. Lehner, M. Thieme, B. Geenen, D. Tickner, F. Antonelli, S. Babu, P. Borrelli, L. Cheng, H. Crochetiere, H. Ehalt Macedo, R. Filgueiras, M. Goichot, J. Higgins, Z. Hogan, B. Lip, M. McClain, J-H. Meng, M. Mulligan, C. Nilsson, J.D. Olden, J. Opperman, P. Petry, C. Reidy Liermann, L. Saenz, S. Salinas-Rodríguez, P. Schelle, R.J.P. Schmitt, J. Snider, F. Tan, K. Tockner, P.H. Valdujo, A. van Soesbergen, C. Zarfl: Mapping the world’s free-flowing rivers. Nature, 9. Mai 2019, https://doi.org/10.1038/s41586-019-1111-9.

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