Erst vor wenigen Wochen ist Alexander Sukhodolov vom Tagliamento zurückgekehrt. „Im Sommer haben wir drei Monate lang stabile Bedingungen für unsere Forschung“, berichtet der IGB-Forschungsgruppenleiter. Das heißt, er und sein Team können Dutzende Experimente unter nahezu identischen Bedingungen durchführen und dabei nacheinander verschiedene Parameter variieren – perfekt, um theoretische Überlegungen in der Praxis zu erproben.
Lebensraum für eine einzigartige Pflanzen- und Tierwelt
Der Tagliamento entspringt in den südlichen Alpen im Nordosten Italiens dicht an der Grenze zu Slowenien, und mündet nach gut 170 Kilometern in die Adria. Der weitgehend unregulierte Strom gilt als der bedeutendste der letzten Wildflüsse in den Alpen. Das liegt an einer Reihe von Eigenschaften: Das Flusssystem bildet einen riesigen Korridor von mehr als 150 Quadratkilometern, der Land und Meer sowie zwei wichtige Lebensräume miteinander verbindet, die Alpen und das Mittelmeer.
Dieser Korridor bildet ein „dynamisches Mosaik aus aquatisch-terrestrischen Lebensräumen“ wie es der ehemalige IGB-Direktor Klement Tockner, der den Tagliamento bereits vor der Jahrtausendwende zu erforschen begann, und seine Ko-Autor*innen einst beschrieben: Tiefere und flachere Flussarme sind verbunden mit großräumigen Überschwemmungsgebieten, in ihnen liegen hunderte Flussinseln und ungezählte Sandbänke, die sich immer wieder neu formieren, ebenso wie die Sedimente mit ihren verschiedenen Gesteinsarten – vulkanisches Gestein und Kalkstein. Der Tagliamento bietet einen Lebensraum für eine einzigartige Pflanzen- und Tierwelt, und an ihm lässt sich studieren, wie natürliche Prozesse in einem weitgehend frei fließenden Fluss ablaufen.
Wie fließt ein Fluss?
Die Idee hinter dem River Lab lautet deswegen: Wenn wir besser verstehen, wie diese Prozesse funktionieren, können wir daraus wirksame Programme zum Schutz und zur Bewirtschaftung von Flüssen entwickeln. Das River Lab dient laut Alexander Sukhodolov dabei als Plattform, um klassische Feld- und Laborforschung miteinander zu verbinden: Im theoretischen Modell integrieren die Forschenden physikalische Gesetze, die auf den Zusammenfluss einwirken. Im River Lab wird dann überprüft, ob die Modellierungen passen. Zu diesem Zweck haben sich die Forschenden einen flachen Nebenarm des Tagliamento ausgesucht, der im Sommer vom Hauptfluss durch ein Kiesbett getrennt ist und nur von Grundwasser gespeist wird. „Darin herrschen während der Sommermonate stabile hydrologische Bedingungen“, sagt der Wissenschaftler.
Experimente und Messungen werden in einer flachen Rinne von 40 Metern Länge, 5 Metern Breite und einer Tiefe von 35 cm durchgeführt, die je nach Bedarf umgebaut werden kann, etwa für Strömungsexperimente. Sukhodolov und sein Team haben auch ein kleines Feld konstruiert, auf dem Wasserpflanzen angeordnet sind – allerdings keine echten, sondern der Art S. Sagittifolia nachempfundene Silikonstreifen. An ihnen lässt sich das Verhalten ihrer lebendigen Vorbilder studieren, etwa bei unterschiedlich starker Strömung.
Das Strömungsverhalten von Flüssen hat auch Auswirkungen auf Fische
Ein weiteres Projekt der letzten Jahre beschäftigte sich mit dem Strömungsverhalten zweier zusammenfließender Flüsse. „Im Kanal haben wir ein Modell von Flusskreuzungen konstruiert. Wir können verschiedene Parameter variieren, etwa das Volumen des einströmenden Wassers oder den Winkel beider ‚Flussarme‘ beim Aufeinandertreffen“, berichtet Alexander Sukhodolov. Denn das Strömungsverhalten, das entsteht, wenn zwei Flüsse sich zu einem vereinigen, verhält sich in der Natur mitunter abweichend vom physikalisch Erwartbaren: Demnach entstehen zwischen den beiden Wassermassen Verwirbelungen, und das Wasser mischt sich – zuweilen bereits auf sehr kurzen Distanzen.
An manchen Zusammenflüssen, etwa der Donau mit der Save im serbischen Belgrad, lässt sich jedoch beobachten, dass die Wassermassen häufig über lange Strecken unvermischt bleiben. „Zwischen den beiden bildet sich eine Mischungsgrenzfläche, an der entlang die eine Wassermasse sich langsamer, die andere schneller bewegt“, sagt der Forscher. Wie lange diese Grenzfläche stabil bleibt, hängt nach den Erkenntnissen des IGB-Teams wesentlich davon ab, wie tief der Fluss im Bereich nach dem Zusammenfluss ist und wie stark sich die Fließgeschwindigkeit unterscheidet. Eine zentrale Rolle spielt außerdem das Flussbett: Es kann die Verwirbelungen beider Wassermassen behindern, sodass sie sich über viele Kilometer nicht mischen.
„Dieses Phänomen ist ökologisch wichtig. Lachse und Störe zum Beispiel nutzen ihren Geruchssinn, um stromaufwärts den Ort ihrer Geburt wiederzufinden und dort selbst zu laichen“, sagt Alexander Sukhodolov. Jeder Strom habe eine spezifische mineralische Komposition; mischen sich zwei Ströme über eine lange Distanz nicht, können sich Wanderfische besser orientieren, weil sie „ihrem“ Wasser nachschwimmen können.
Die Zukunft des Tagliamento
Erkenntnisse wie diese dienen dazu, die Biodiversität von Flüssen in einer sich durch den Klimawandel ändernden Welt zu schützen. Auf den Tagliamento, sagt Alexander Sukhodolov, hätte sich die globale Erwärmung bislang noch nicht spürbar ausgewirkt: „Flüsse in anderen Regionen Italiens sind von mehr Überflutungen bedroht als früher, aber das gilt nicht für dieses Flusssystem“. Problematisch sei allerdings die zunehmende landwirtschaftliche Nutzung der Flächen im Einzugsgebiet des Tagliamento.
Auch die Geschichte hat dem Fluss eine Bürde hinterlassen: Im Uferbereich befinden sich an manchen Stellen noch immer viele Bomben aus dem zweiten Weltkrieg. Zugleich tut sich etwas: Die örtliche Gemeinschaft ist zunehmend über die Probleme am Tagliamento beunruhigt und hat jüngst den Verein Legambiente gegründet, an dessen Aktivitäten auch das IGB beteiligt ist. In diesem Rahmen wird etwa das Problem der Plastikverschmutzung des Flusskorridors untersucht.
Text: Wiebke Peters