Bestürzung und Unsicherheit in der Öffentlichkeit waren groß – von Quecksilber, Lösungsmitteln, Pestiziden und Schwermetallen war zunächst die Rede. Deshalb zögerten IGB-Forschende nicht, mit eigenen, unabhängigen Untersuchungen aktiv zu werden. In wissenschaftlicher Detektivarbeit stießen sie schnell auf die biologische – und dennoch menschengemachte – Ursache. Aber zurück zum Anfang der Katastrophe:
Eine tödliche Welle erfasst die Oder und zwei Stör-Aufzuchtanlagen des IGB
9. August 2022
Eine Welle toter Fische erreicht den Grenzfluss. Zuvor – Ende Juli – war es bereits auf polnischem Gebiet vereinzelt zu Fischsterben gekommen. Die Stadtverwaltung Frankfurt/Oder warnt daraufhin ihre Bevölkerung vor dem Kontakt mit dem Oderwasser und dem Verzehr von Fischen aus dem Fluss. Dann geht alles ganz schnell: Binnen zwei Wochen treiben hunderte Tonnen Fischkadaver auf dem Fluss. Über 200 Tonnen werden davon geborgen, weitaus mehr sinken auf den Grund oder werden in den Ufersaum gespült. Die Tiere zeigen Erstickungssymptome.
10. August 2022
Betroffen von der Katastrophe sind auch Baltische Störe, die in den letzten drei Jahren in den Fluss besetzt wurden – darunter mehr als 1.000 Jungtiere vom Frühjahr 2022. „Wie viele der ausgewilderten Störe genau gestorben sind, ist nicht seriös abzuschätzen“, sagt IGB-Forscher Jörn Geßner. Etwa 50 Tiere, zum Teil bis zu 90 cm groß, werden tot im Unteren Odertal geborgen. Auch zwei mit Oderwasser betriebene Aufzuchtanlagen, in denen etwa 20.000 Jungstöre leben, werden von der toxischen Welle erfasst. Kaum ein Stör überlebt. „Die verendeten Tiere waren erst einen Monat alt und sollten eigentlich im Herbst 2022 in die Oder besetzt werden, um zu helfen, dort künftig sich selbst erhaltende Bestände aufzubauen“, erklärt der Biologe. Die Ereignisse seien der schwerste Rückschlag für das Wiederansiedlungsprogramm, das Geßner seit 1996 koordiniert.
Ein Verdacht erhärtet sich: Forschende identifizieren die Brackwasseralge Prymnesium parvum
15. August 2022
Die Messdaten des Landesamts für Umwelt Brandenburg (LfU) am Pegel in Frankfurt/Oder zeigen ein ungewöhnliches Bild: „Die Sauerstoffkonzentrationen lagen deutlich über 100% Sättigung, der pH-Wert war erhöht. Zugleich stellten wir starke Schwankungen im Tagesverlauf fest“, erklärt Jan Köhler, Algenspezialist am IGB. „Solche Werte sind nur durch Photosynthese erklärbar. Das hieß für uns, dass wir es mit einer massiven Algenblüte zu tun haben mussten.“ Unklar ist zunächst, was es mit den hohen elektrischen Leitfähigkeiten auf sich hat, der Wert steigt von 800 auf über 2.000 Mikrosiemens pro Zentimeter (µS/cm) – so hohe Werte können in einem Fluss nur durch industrielle Salzeinleitungen entstehen.
IGB-Forschende beginnen umgehend, Proben auszuwerten, den Pigmentgehalt und die Fitness der Algen zu messen, Fotos zu machen und Proben für genetische Analysen zu konservieren. Was sie finden, ist für Süßgewässer in Europa mehr als ungewöhnlich: hohe Konzentrationen von Prymnesium parvum, einer Brackwasseralge. Diese Algenart ist dafür bekannt, ein starkes Gift zu bilden, das Schleimhäute und dünne Blutgefäße angreift und insbesondere Fische sowie Weichtiere ersticken lässt. Bei geringen Fließgeschwindigkeiten, viel Licht, warmem Wasser und vergleichsweise hohen Salz- und Nährstofffrachten im Fluss kann sie sich massiv ausbreiten. Das Salz erweist sich wenig später als Natriumchlorid – übliches „Kochsalz“. Dass die Einleitungen aus Polen kommen, ist schnell klar – das oder die konkreten Unternehmen jedoch nicht.
19. August 2022
Das IGB kann Prymnesium parvum in allen Proben aus der mittleren Oder nachweisen und mikroskopisch identifizieren. Für den Toxinnachweis werden die Proben an eine Kollegin des Instituts für Lebensmittelchemie und Toxikologie der Universität Wien geschickt. „Wir konnten eine Unterart des Algengiftes, der sogenannten ,Prymnesine', zweifelsfrei und in signifikanten Mengen in Oderproben von verschiedenen Standorten nachweisen“, erklärt die Wissenschaftlerin Elisabeth Varga von der Universität Wien. Vom IGB durchgeführte Tests an Fischeiern mit dem Oderwasser bestätigen die tödliche Wirkung des Gifts.
Aufgrund der bis dahin gesammelten Erkenntnisse sind die Forschenden überzeugt, dass kein natürliches Phänomen vorliegt. „So eine Massenentwicklung wurde nach meinem Wissen noch nie in unseren Gewässern beobachtet“, sagt Jan Köhler. „Ohne Einleitungen von Salzen und Nährstoffen und den Aufstau des Flusses wäre es nicht zu dieser Katastrophe gekommen.“
Ein weiteres Indiz: Satellitendaten bestätigen eine massive Algenblüte
Zur gleichen Zeit beginnt IGB-Wissenschaftler Tobias Goldhammer mit Kolleg*innen von der Universität Leipzig und von Brockmann Consult, einem Unternehmen für Umweltdatenanalyse und -software aus Hamburg, Daten des Copernicus-Satelliten Sentinel-2 auszuwerten. Sie suchen nach frühen Anzeichen der Algenblüte und wollen die zeitlich-räumliche Entwicklung rekonstruieren. Aus den prozessierten Roh-Satellitendaten lassen sich Chlorophyll-Konzentrationen berechnen, die die Algenblüte anzeigen.
31. August 2022
Der Datensatz ist nun vollständig, er zeigt: Während in der zweiten Julihälfte die Konzentrationen im gesamten Flusslauf noch auf einem mittleren Niveau liegen, sind sie im Oberlauf um die Stadt Opole (Polen) bereits erhöht. Anfang August steigt die Chlorophyll-Konzentration auf der Höhe von Wrocław (Polen) sprunghaft an. Danach kommt es zu einer sehr schnellen Ausbreitung der Blüte, die binnen einer Woche fast die gesamte Oder umfasst. Erst Ende August erreichen die Chlorophyll-Konzentrationen wieder das mittlere Niveau von Anfang Juli.
Zur Umweltkatastrophe kommt es nach der Analyse der Forschenden infolge mehrerer Belastungsfaktoren, die allesamt durch menschliches Handeln verursacht wurden. Dazu gehören auch Ausbaumaßnahmen, die bereits die natürliche Widerstandsfähigkeit des Flusses gegenüber hydrologischen und klimatischen Veränderungen reduziert hatten: „Wir verstehen die Oder-Katastrophe als multikausales, von Menschen verursachtes Ereignis. Erhöhte Salzgehalte durch industrielle Belastungen im Oberlauf traten auch in der Vergangenheit öfter in der Oder auf, ohne dass es zu solch massiven Algenblüten gekommen wäre. Die Rahmenbedingungen scheinen sich jetzt aber geändert zu haben“, erklärt Tobias Goldhammer.
Forschende empfehlen geeignete Maßnahmen zum Schutz des Ökosystems
12. September 2022
IGB-Forschende empfehlen nach der Oder-Katastrophe, den Fluss und seine verbliebenen naturnahen Lebensräume zu schützen und wiederherzustellen, anstatt ihn durch zusätzliche flussbauliche Maßnahmen weiter zu regulieren. Schon 2020 hatten sie in einem Policy Brief vor den ökologischen Risiken des Oder-Ausbaus gewarnt.
In einem weiteren Policy Brief empfehlen die Forschenden nun, das Ausbauvorhaben beidseits des Flusses auf den Prüfstand zu stellen und zusätzlich weitere Maßnahmen zu ergreifen, die das Ökosystem der Oder stabilisieren und künftig eine nachhaltige Nutzung sicherstellen. „Die Zukunft der Oder und ihrer Lebewesen wird davon abhängen, ob Politik und Behörden sich dazu entschließen, die natürliche Widerstandsfähigkeit des Ökosystems zu stärken“, betont Jörn Geßner.
Eine erste Probebefischung dokumentiert massiv gesunkene Fischbestände
27. September bis 19. Oktober 2022
Um sich einen besseren Überblick über den verbliebenen Fischbestand zu verschaffen, führt das IGB mehrere wissenschaftliche Probebefischungen durch. Deren Ergebnisse sind ernüchternd: Arten wie Quappe und Steinbeißer, Blei und Güster haben massive Verluste erlitten. Größere Fische von 10 Zentimeter Körperlänge oder größer gibt es kaum noch.
Sorgen bereitet den Forschenden insbesondere der Baltische Goldsteinbeißer, der in Deutschland ausschließlich in der Oder vorkommt. Die einzige bekannte, stabile Population bei Reitwein umfasste geschätzt rund 500 Tiere. Dort kann kein einziges Tier mehr nachgewiesen werden. Dafür findet das IGB-Team zehn Exemplare bei Ratzdorf sowie ein Einzeltier in der unteren Neiße. „Ob die Tiere vor der Giftwelle aus stromauf gelegenen Beständen geflohen und eingewandert sind oder ob es eine schon länger bestehende stabile Population ist, und seit wann die Tiere dort schon vorkommen, wissen wir nicht“, sagt Fischökologe Christian Wolter.
Ebenfalls im Oktober zeigen die Messpegel des LfU in Frankfurt/Oder erneut eine stark erhöhte Leitfähigkeit an, obwohl mehr Wasser als in den Sommermonaten in der Oder fließt. Das bedeutet: Es sind noch höhere Salzmengen als zu akuten Katastrophenzeiten im Fluss.
Von Erholung keine Spur
29. November 2022
Nach ersten wissenschaftlichen Probebefischungen im Uferbereich im September und Oktober findet nun die erste umfangreiche Befischung der Strommitte der Oder nach der Katastrophe statt. Diese Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Die Wissenschaftler fangen deutlich weniger Fisch, Arten wie Zope und Rapfen fehlten ganz. Insgesamt gehen nur halb so viele Fische ins Netz wie im Durchschnitt der Vorjahre. Nicht nur Fische fehlen: Auch Muscheln und Schnecken sind kaum noch vorhanden. „Schon Daten vom August lieferten uns Hinweise darauf, dass die Muscheln durch die Oder-Katastrophe um die Hälfte ihrer Biomasse reduziert wurden“, sagt Christian Wolter. Sie sind die wichtigsten Filtrierer im Ökosystem. „Es wird noch sehr lange dauern, bis die Bestände wiederaufgebaut sind, denn Muscheln sind nicht so mobil, um zügig aus Refugien wieder einzuwandern. Dies gilt insbesondere für die einheimischen Großmuscheln, die auch in Konkurrenz zu invasiven Muschelarten stehen“, so der Ökologe.
Messungen der Leitfähigkeit während der Befischung zeigen erneut, dass die Salzgehalte für das Flussökosystem deutlich zu hoch sind. Am Pegel Frankfurt/Oder liegt die Leitfähigkeit bereits seit Mitte November bei über 1.900 µS/cm, Ende November sind es sogar über 2.000 µS/cm. Der Hauptbestandteil der Salzfracht ist nach wie vor Natriumchlorid. „Davon haben wir in den Wasserproben aus der Unteren Oder etwa 400 Milligramm pro Liter Wasser gefunden, das ist in etwa die Hälfte der gesamten Salzmenge in diesen Proben. Offensichtlich wird in großem Maßstab weiterhin Salz in den Fluss eingeleitet“, erklärt der Biogeochemiker Tobias Goldhammer.
Blick in die Zukunft: Eine Katastrophe mit Ansage?
Nach der Katastrophe haben die IGB-Forschenden im Sediment der Oder sogenannte Dauerstadien von Prymnesium parvum nachgewiesen. Diese „schlafenden“ Algen können erwachen, sobald wieder geeignete Lebensbedingungen vorhanden sind. Das heißt auch, die Katastrophe könnte sich bei steigenden Temperaturen und entsprechenden Rahmenbedingungen wiederholen – und zwar in jedem Sommer wieder.
An den Empfehlungen der IGB-Forschenden hat sich daher nichts geändert. Allen voran sollten die flussbaulichen Maßnahmen zur Vertiefung der Oder gestoppt werden: „Wenn wir die mittelbaren Ursachen der Oder-Katastrophe betrachten, dann begünstigten Niedrigwasser und höhere Verweilzeiten des Wassers die Massenentwicklung der Alge. Der Ausbau der Oder würde das Einsetzen und die Dauer von Niedrigwasserständen fördern, weil das Wasser, wenn es da ist, im Frühjahr schneller ins Meer fließt. Stattdessen brauchen wir mehr Rückhalt in der angrenzenden Aue“, erläutert Christian Wolter. „Um das Ökosystem Oder zu schützen, sollten Lebensräume renaturiert und stoffliche Einträge deutlich gesenkt werden“, fügt er hinzu. Dazu gehöre auch, die Einleitgenehmigungen von Frachten auf Konzentrationen umzustellen, für die dringend ein ökologisch verträglicher Grenzwert festgelegt bzw. eingehalten werden müsse.
Bis sich die Bestände erholt haben, könne es noch einige Jahre dauern. Voraussetzung dafür wäre, dass Maßnahmen zur Verbesserung ergriffen werden – und sich die Katastrophe nicht wiederholt.