Fokus

„Der Artenrückgang in Süßgewässern ist erschreckend“

Interview mit Dr. Gregor Kalinkat zur aquatischen Biodiversität
In einem Ende 2016 veröffentlichten Arbeitspapier ruft IGB-Forscher Dr. Gregor Kalinkat gemeinsam mit anderen Kollegen dazu auf, mehr für den Schutz der Biodiversität in Süßgewässern zu tun. Im Interview erklärt der Biologe, warum Arten in Seen, Flüssen und Co. besonders gefährdet sind – und verrät, was eine gute Flaggschiff-Spezies für Berliner Gewässer wäre.

Foto: David Ausserhofer

Der Rückgang der Artenvielfalt auf unserem Planeten ist seit Jahren ein hot topic in der Biologie, auch am IGB wird dazu geforscht. Was bedeutet der Verlust von Biodiversität für den Menschen?

Diese Frage wird in der Wissenschaft intensiv diskutiert; dabei geht es zum einen um die utilitaristische Dimension, das heißt um die Frage, inwieweit Artenvielfalt dem Menschen konkret im Rahmen von „Ökosystemdienstleistungen“ nützt, und außerdem um moralische Aspekte, also darum, die Verpflichtung des Menschen anzuerkennen, Natur als Wert an sich zu erhalten. Das wichtigste utilitaristische Argument ist der so genannte Portfolio-Effekt: Demnach reduziert Artenvielfalt das Risiko, dass unvorhergesehene Ereignisse dramatische Konsequenzen für uns Menschen haben, etwa in der Nahrungsmittelproduktion.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Wissenschaftler konnten für die amerikanische Pazifikküste zeigen, dass die Lachs-Erträge dort konstant sind, auch wenn eine Population mal schwächelt. Dass es dort viele verschiedene Populationen gibt, hat also einen Absicherungseffekt. Eine weitere für den Menschen nützliche Ökosystemdienstleistung von Artenvielfalt ist die Kontrolle von Krankheiten und deren Überträgern. Ein einfaches Beispiel: Finden sich Frösche in einem Tümpel, fressen diese Mückenlarven, also mögliche Krankheitsüberträger. Zur Biodiversität gehört aber auch die genetische Vielfalt innerhalb einer Art. Die ist ebenfalls sehr wichtig, zum Beispiel, wenn innerhalb einer Population eine Krankheit ausbricht: Weisen die Individuen eine hohe genetische Vielfalt auf, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass einige der Tiere besser mit der Krankheit klarkommen und die Population den Ausbruch der Krankheit unbeschadet übersteht.

Gebänderte Prachtlibelle

Die Gebänderte Heidelibelle (Sympetrum pedemontanum) ist eine der geschützten Arten, die sich im Berliner Raum als Flaggschiff für die Artenvielfalt in Gewässern eignen könnte. | Foto: L. B. Tettenborn

Der Rückgang von Biodiversität in Süßgewässern ist viel stärker als im Meer oder auf dem Land: Laut den im Oktober 2016 veröffentlichten Zahlen des Living Planet Index des WWF beträgt er 81 gegenüber 38 (Land) und 36 (Meer) Prozent für den Zeitraum 1970 bis 2012. Warum sind Gewässer besonders stark vom Artenverlust betroffen?

Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: Der Bedarf des Menschen an Süßwasser ist sehr hoch, er benötigt es als Trinkwasser, aber auch für Landwirtschaft und Industrie. Das sehen wir zum Beispiel in Ägypten: Fast alle dort lebenden Menschen ballen sich am Nil, also dort, wo Süßwasser vorhanden ist. Der Druck auf den Fluss ist riesig, nicht nur durch Entnahme, auch durch regulatorische Eingriffe wie Dämme – was sich negativ auf die Artenvielfalt auswirkt. Der zweite zentrale Aspekt ist die Insel-Situation, die viele Süßgewässer auszeichnet. Die meisten Habitate für Süßwasserarten sind isoliert voneinander, und die dort lebenden Spezies sind an ihre „Insel“ gebunden und können andere Inseln nicht erreichen, wenn ihre eigene zerstört wird. Die Zahlen des Living Planet Index beziehen sich nur auf Wirbeltiere, zeigen aber deutlich, wie erschreckend das Ausmaß des Rückgangs der Arten in Süßgewässern ist. Wir wissen generell zu wenig über die tatsächliche Biodiversität – und damit auch nicht, was wir eigentlich verlieren.

Können Sie näher erläutern, was Sie damit meinen?

Es gibt insbesondere in Gewässern zahllose Arten, die noch nicht bestimmt sind. So werden jedes Jahr allein 250 neue Süßwasser-Fischarten entdeckt – obwohl es vergleichsweise wenige Forscher gibt, die auf diesem Gebiet arbeiten. Die „Dunkelziffer“ nicht bekannter Spezies muss enorm hoch sein. Dabei ist es denkbar, dass wir beispielsweise bei einer neuen Art auf ein Gen treffen, mit dem wir in der Lage wären, Krankheiten zu heilen. Oder – Stichwort Nahrungsmittelsicherheit – wir könnten Zuchtformen kreieren, die die Proteinversorgung der Zukunft sicherstellen, etwa indem wir mithilfe einer neu entdeckten Spezies einen Mechanismus im Immunsystem entdecken, der sich zum Einsatz in der Aquakultur eignet.

Apropos Aquakultur, Fische sind heute die weltweit wichtigste Quelle für tierisches Protein. Warum mangelt es bislang trotzdem an öffentlicher Aufmerksamkeit für das Thema Artenverlust in Gewässern und an geeigneten Gegenmaßnahmen?

Auf dem Land gibt es Löwen oder Elefanten, im Meer Wale und Haie – für Süßgewässer fehlen körperlich große Arten, die die Menschen emotional bewegen. Außerdem sind die Habitate unterschiedlich „sexy“ – auf eine Safari gehen oder im Korallenriff tauchen ist viel spannender, als einen Kescher durch den Tümpel im Wald zu ziehen oder heimische Seen unter Wasser zu erkunden. Dieses Ungleichgewicht findet sich auch in der Wissenschaft: Zu Süßwasserorganismen wird weniger geforscht, weil die Chance auf Finanzierung solcher Projekte einfach geringer ist. Was Gegenmaßnahmen anbetrifft, bin ich gar nicht so pessimistisch. Zum Beispiel werden in vielen Ländern Europas Flussläufe verbessert, um wandernden Arten das Leben zu erleichtern, etwa durch den Einbau von Fischtreppen oder den Rückbau von Dämmen.

Sie haben in einer 2016 veröffentlichten Publikation dazu aufgerufen, „Süßwasser-Pandas“ zu identifizieren, mit denen das Interesse der Menschen an Gewässerbiodiversität geweckt werden kann. Wie kann dieses Konzept beim Artenschutz helfen?

Grundsätzlich geht es darum, Arten zu identifizieren, die das Potenzial haben, stellvertretend für den Verlust von Biodiversität zu stehen und die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und auch in Wissenschaft und Politik zu stärken. Als globaler „Süßwasser-Panda“ würden sich zum Beispiel Flussdelfine eignen. Für regionale Habitate braucht man allerdings eigene Flaggschiff-Arten. Für Gewässer in Berlin und Brandenburg könnte das zum Beispiel die Gebänderte Heidelibelle sein, eine gefährdete Art, die naturnahe Fließgewässer mit Überflutungsbereichen bevorzugt.

Das Konzept des Süßwasser-Pandas entstand im Rahmen eines internationalen Workshops zu Biodiversität am IGB. Wie geht es nun weiter?

Wir sind aktuell dabei, eine Initiative zu entwickeln, die zum Ziel hat, Biodiversitätsforschung in Süßgewässern besser zu bündeln und zu koordinieren – da gibt es im Vergleich zur terrestrischen Biodiversitätsforschung einiges aufzuholen.

Ansprechpersonen

Gregor Kalinkat

Postdoktorand*in
Forschungsgruppe
Lichtverschmutzung und Ökophysiologie

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