Der Begriff Antizipation leitet sich vom Lateinischen „anticipare“ ab, was vorwegnehmen bedeutet. Im sozialen Kontext ist Antizipation ein zweistufiger Prozess mit einer anfänglichen Vorhersage der Handlungen anderer, auf die eine eigene Handlung folgt, die die ursprüngliche Vorhersage berücksichtigt. Antizipation ist Teil eines umfassenden Konzepts der sozialen Responsivität oder der sogenannten sozialen Kompetenz. „Vorhersagen, was Sozialpartner in Zukunft tun werden, kann ein großer Vorteil in sozialen Interaktionen sein, wenn das eigene Verhalten dann adaptiv verändert werden kann“, erläutert Professor Jens Krause, Forscher an der HU Berlin und am IGB. Der Verhaltensökologe hat die Studie geleitet.
Am Beispiel von sich synchron im Schwarm bewegenden Fischen hat das Forschungsteam die Hypothese untersucht, ob Individuen die Bewegungen ihrer Nachbarn antizipieren, um die Reaktionszeit bei Richtungsänderungen der Sozialpartner zu minimieren. Außerdem nahmen die Forschenden auf der Grundlage von vorangegangenen Experimenten an, dass in Gruppen lebende Tiere die Orte im Lebensraum vorhersehen können, die ein Sozialpartner in der Zukunft aufsuchen wird.
Beim Fischschwarm ähnliche Mechanismen wie im Mannschaftssport
„Aus Studien weiß man, dass Profis im Ballsport verschiedene Anzeichen wie Körperhaltung oder Bewegungen ihrer Mitspielenden nutzen können, um die Flugkurve oder den Auftreffpunkt des Balls vorherzusagen, noch bevor der Ball geworfen oder getreten wird. Und zwar deutlich besser als Laien. Die Antizipation ist uns Menschen zwar angeboren, kann aber durch Training und Übung verbessert werden. Auch ein Fischschwarm bewegt sich sehr schnell und wir kennen bereits einige Aspekte, die das beeinflussen. Wir wussten bisher aber nicht, ob die Antizipation ein Teil dieses komplexen Prozesses ist“, sagt David Bierbach, Forscher im Exzellenzcluster und Hauptautor der Studie.
Die Forschenden ließen lebende Guppys (Poecilia reticulata) wiederholt mit einem Roboterfisch interagieren, der sich zuvor als akzeptierter Artgenosse erwiesen hat. Der Roboterfisch schwamm immer die gleiche Zickzackbahn im Versuchsbecken ab, die in einer der Ecken endete, was den lebenden Fischen die Möglichkeit gab, in drei aufeinanderfolgenden Versuchen sowohl die Lage des Endziels als auch die spezifische Drehungen des Roboters zu erlernen. Die Reaktionen der lebenden Fische wurden in eine allgemeine Antizipation eingeteilt, definiert als relative Zeit bis zum Erreichen der endgültigen Position des Roboterfischs. Außerdem bestimmten die Forschenden die lokale Antizipation, also Zeitpunkt und Ort der Drehungen des lebenden Fisches im Verhältnis zu den Drehungen des Roboterfischs.
Und tatsächlich zeigten die Fische allgemein antizipierendes Verhalten: Sie erreichten im dritten Versuchsdurchgang die Zielecke des Roboterfischs deutlich früher als der Roboterfisch selbst. Insgesamt erreichten mehr als die Hälfte aller Fische vor dem Roboter den Zielort. Als Indikator für lokale Antizipation zeigte sich, dass die Fische ihr Drehverhalten als Reaktion auf den Roboter im Laufe der Versuche änderten. Anfangs drehten sich die Fische nach dem Roboter, was sich am Ende umkehrte, als sie im letzten Versuch sogar schon leicht vor dem Roboter die Richtung änderten.
„Die Ergebnisse zeigen, dass Fische in der Lage sind, das Verhalten von Sozialpartnern zu antizipieren und durch Training sogar besser darin zu werden. Dies ist also eine weitere Erklärung dafür, warum Fische im Schwarm – die sich untereinander gut kennen – zu extrem schnellen kollektiven Bewegungen fähig sind,“ resümiert David Bierbach. Experimente wie diese sind auch wichtig, um Muster von biologischer Intelligenz zu verstehen und smarte Technologien zu entwickeln.