Die Detailanalyse der Oder-Katastrophe dauert derzeit noch an. Das IGB konnte aber bereits zeigen, dass es sich nicht um ein natürliches Phänomen, sondern um ein menschengemachtes Problem handelt: Eine entscheidende Rolle hat dabei die Massenentwicklung der giftigen Brackwasser-Alge Prymnesium parvum gespielt. Zu hohe Salzkonzentrationen infolge industrieller Einleitungen hatten einen künstlichen Lebensraum für diese Alge geschaffen. „In der Oder hat sich diese Alge in einem solchen Ausmaß ausgebreitet, wie es meines Wissens noch nie in unseren Gewässern beobachtet wurde“, erklärt Algen-Experte Jan Köhler. Hohe Nährstoffkonzentrationen im Wasser, die ebenfalls auf menschliche Einleitungen zurückgehen, sehr hohe Wassertemperaturen, abschnittsweiser Aufstau und geringe Wasserführung der Oder infolge der anhaltenden Dürrephase boten ihr ideale Wachstumsbedingungen.
Das von der Alge gebildete Gift hatte im August zum Tod zahlreicher Fische, Muscheln und Wasserschnecken geführt. Nun wird die Biomasse der gestorbenen Tiere von Bakterien zersetzt. Dies kann zu extremem Sauerstoffmangel und zu weiteren, nachgelagerten Fischsterben führen, wie sie derzeit in verschiedenen Abschnitten der Oder und ihrer Nebengewässer beobachtet werden.
Naturbasierte Lösungen: Belastungsfaktoren reduzieren, flussbauliche Eingriffe beenden
Zur Umweltkatastrophe kam es infolge mehrerer Belastungsfaktoren, die allesamt durch menschliches Handeln verursacht wurden. Sie konnten an der Oder auch eine solch fatale Wirkung entfalten, weil zuvor Ausbaumaßnahmen die natürliche Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Flusses gegenüber hydrologischen und klimatischen Veränderungen reduziert hatten. „Wir verstehen die Oder-Katastrophe als multikausales, von Menschen verursachtes Ereignis. Erhöhte Salzgehalte durch industrielle Belastungen im Oberlauf traten auch in der Vergangenheit öfter in der Oder auf, ohne dass es zu solch massiven Algenblüten gekommen war. Die Rahmenbedingungen scheinen sich jetzt aber geändert zu haben. Wenn die Salzkonzentrationen nicht sinken und wir durch den Klimawandel weiterhin zu heiße und trockene Sommer erleben, kann es zukünftig wieder zu solchen Massenentwicklungen giftiger Algen kommen“, befürchtet IGB-Forscher Tobias Goldhammer.
Nach der Oder-Katastrophe ist es aus wissenschaftlicher Sicht deshalb entscheidend, den Fluss und seine verbliebenen naturnahen Lebensräume zu schützen und wiederherzustellen – anstatt ihn durch zusätzliche flussbauliche Maßnahmen weiter zu regulieren. Schon 2020 hatte das IGB in einem vorhergehenden Policy Brief vor den ökologischen Risiken des Oder-Ausbaus gewarnt.
Nun empfehlen die IGB-Forschenden erneut, das Ausbauvorhaben beidseits des Flusses auf den Prüfstand zu stellen. Zusätzlich sollten weitere Maßnahmen ergriffen werden, um das Ökosystem der Oder zu stabilisieren und künftig eine nachhaltige Nutzung sicherzustellen. „Die Zukunft der Oder und ihrer Lebewesen wird davon abhängen, ob Politik und Behörden sich dazu entschließen, die natürliche Widerstandsfähigkeit des Ökosystems zu stärken“, unterstreicht IGB-Biologe Jörn Geßner. Dass Renaturierung die beste Krisenprävention ist, findet auch Christian Wolter, Fischökologe am IGB: „Intakte Flusslandschaften sind eine essentielle Lebensgrundlage für den Menschen und Zentren der Biodiversität.“ Und er betont: „Um ihre Resilienz und Anpassung an den Klimawandel zu fördern, sind natürliche Prozesse zum Hochwasserschutz und Wasserrückhalt in der Landschaft zu revitalisieren sowie Eingriffe möglichst rückzubauen bzw. zu mildern.“
Die Wissenschaftler*innen formulieren die folgenden sechs forschungsbasierten Handlungsempfehlungen, die im neuen IGB Policy Brief ausführlicher erläutert sind:
- Beendigung flussbaulicher Maßnahmen zur Vertiefung oder zum Ausbau der Oder
- Reduzierung von Emissionen: Grenzwerte stofflicher Belastung deutlich senken, Kühlwassernutzung einschränken
- Renaturierung des Hauptlaufs und Wiedervernetzung mit Nebengewässern
- Kein Besatz mit gebietsfremden Tieren
- Stärkung eines international harmonisierten Gewässermanagements
- Ausweitung eines digitalen Monitoringsystems mit frei zugänglichen Daten
Außerdem ist ein Begleitdokument zum IGB Policy Brief erschienen, das potenzielle Revitalisierungsflächen an der Grenzoder betrachtet. Es steht ebenfalls kostenlos zum Download zur Verfügung >
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Für einen detaillierteren Austausch mit Politik, Behörden, Verbänden und Wirtschaft stehen die IGB-Autor*innen gerne zur Verfügung.
Stimmen der Autor*innen
„In der Oder hat sich die toxinbildende Brackwasser-Alge Prymnesium parvum in einem solchen Ausmaß ausgebreitet, wie es meines Wissens noch nie in unseren Gewässern beobachtet wurde. Die Alge wächst bei Salzgehalten von zwei bis 30 Promille. Süßwasser hat unter natürlichen Bedingungen aber weniger als ein Promille Salzgehalt. Massive Salzeinträge müssen also dazu geführt haben, dass die Algenart in der Oder optimale Bedingungen vorfand. Begünstigt wurde die Entwicklung durch hohe Nährstoffgehalte im Wasser, sehr hohe Wassertemperaturen sowie Staustufen im Oberlauf, die die Fließgeschwindigkeit herabsetzen.“ Dr. Jan Köhler
„Wir verstehen die Oder-Katastrophe als multikausales, von Menschen verursachtes Ereignis. Erhöhte Salzgehalte durch industrielle Belastungen im Oberlauf traten auch in der Vergangenheit öfter in der Oder auf, ohne dass es zu solch massiven Algenblüten gekommen war. Die Rahmenbedingungen scheinen sich jetzt aber geändert zu haben. Wenn die Salzkonzentrationen nicht sinken und wir durch den Klimawandel weiterhin zu heiße und trockene Sommer erleben, kann es zukünftig wieder zu solchen Massenentwicklungen giftiger Algen kommen.“ Dr. Tobias Goldhammer
„Im Zuge des Klimawandels werden wir vermehrt Dürrephasen mit niedrigen Pegeln, geringen Sauerstoffwerten und höheren Wassertemperaturen erleben. Bei Niedrigwasser können sich verschiedene schädliche Substanzen aufkonzentrieren, weil sie in viel geringerem Wasservolumen verdünnt werden. Emissionen sollten deshalb an den Zustand des Gewässers angepasst und Einleitungsgrenzwerte entsprechend gesenkt werden.“ Dr. Stephanie Spahr
„Die Umweltkatastrophe an der Oder führt uns vor Augen, dass bestehende Kontrollmechanismen solche Verschmutzungsereignisse nicht verhindern können. Damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholt, müssen Messeinrichtungen, Online-Verfügbarkeit der Überwachungsdaten und behördliche Meldeketten an allen Flüssen verbessert werden. Zumal das Fischsterben zuerst von Bürger*innen entdeckt wurde, sollten bürgerwissenschaftliche Netzwerke zum Schutz des Flusses gefördert werden.“ Dr. Martin Pusch
„Die Zukunft der Oder und ihrer Lebewesen wird davon abhängen, ob Politik und Behörden sich dazu entschließen, die natürliche Widerstandsfähigkeit des Ökosystems zu stärken, denn Renaturierung ist die beste Krisenprävention. Für den Schutz der Fischbestände ist es mittelfristig vor allem wichtig, das Angebot an Laich- und Brutaufwuchsgebieten in der Oder zu erhöhen, um dem Stör – und mit ihm vielen typischen Flussfischarten – bessere Ausgangsbedingungen für eine erfolgreiche Eigenvermehrung zu schaffen. Langfristig sollten zudem mehr Nebengewässer mit dem Fluss verbunden werden, damit Ausweichrefugien entstehen.“ Dr. Jörn Geßner
„Intakte Flusslandschaften sind eine essentielle Lebensgrundlage und Zentren der Biodiversität. Um ihre Resilienz und Anpassung an den Klimawandel zu fördern, sind natürliche Prozesse zum Hochwasserschutz und Wasserrückhalt in der Landschaft zu revitalisieren sowie Eingriffe möglichst rückzubauen bzw. zu mildern. Rein technische, flussbauliche Maßnahmen erhöhen hingegen das Risiko, dass sich solche Katastrophen wiederholen. Stauhaltungen helfen nicht beim nachhaltigen Wasserrückhalt und sind keine sinnvolle Anpassung an Klimaveränderungen. Im Gegenteil: Sie begünstigen Verdunstung, halten Sedimente zurück, fördern stromab sogar Tiefenerosion und Landschaftsentwässerung.“ Dr. Christian Wolter