Fokus
Angelina Tittmann

Verstopfte Lebensadern: zu viele Barrieren in Europas Flüssen

Interview zum Weltwassertag
Das EU-Forschungsvorhaben AMBER deckte 2020 auf, wie zerstückelt unsere Flüsse sind: 1,2 Millionen Querbauwerke zerschneiden Europas Fließgewässer, davon etwa 225.000 in Deutschland. Helena Huđek und Martin Pusch überprüften in 15 Ländern vor Ort, inwieweit behördliche Angaben mit der tatsächlichen Zahl an Barrieren übereinstimmen. Die Doktorandin und der sie betreuende Gewässerforscher berichten über den Zustand der Flüsse, und wie man sie wieder zum Fließen bringt.

Im Fluss Lim (Bosnien und Herzegowina) verhindert ein Seil mit Kanistern, dass Müll in die Turbinen eines flussabwärts gelegenen Wasserkraftwerks gelangt. | Foto: Helena Huđek

Frage: Frau Huđek, Herr Pusch, Sie haben für AMBER Querbauwerke in Flussläufen in Deutschland und 14 weiteren europäischen Ländern gezählt. Warum?

Martin Pusch: Das Projekt hatte sich zum Ziel gesetzt, einen europäischen Atlas bestehender Querbauwerke in Flüssen zu erstellen. Aus den EU-Mitgliedsländern wurde hierzu eine offizielle Zahl von insgesamt 630.000 Barrieren gemeldet. Weil die Statistiken der Behörden erfahrungsgemäß unvollständig sind, haben wir in 15 Ländern durch Fahrten entlang der Flüsse erfasst, wie hoch die tatsächliche Zahl der Bauwerke ist. Daraus wurde dann eine realistischere, aber immer noch konservative Zahl errechnet: 1,2 Millionen Barrieren in Europas Flüssen, davon in Deutschland 225.000 Barrieren, von denen 179.000 den Behörden bekannt waren.

Helena Huđek: Ich habe die Barrieren in insgesamt 25 Flüssen in Deutschland, Tschechien und Ungarn sowie sechs Balkan-Ländern auf einer Länge von jeweils 20 Kilometern dokumentiert. Wir haben alle Barrieren erfasst, das heißt ihren Typ, ihre Nutzung, und ob in den Flüssen noch ausreichend Wasser fließt.

Was haben Sie bei Ihren Erkundungen vorgefunden?

HH: Wir haben viel mehr Barrieren entdeckt als erwartet. Insbesondere in Tschechien fanden wir zahlreiche kleine selbstgebaute Barrieren, etwa einen Meter hoch, die einst errichtet wurden, um im Fluss besser fischen oder schwimmen zu können. Niemand wusste, dass diese Barrieren existieren.

Welche Auswirkungen haben Barrieren auf die Fließgewässer?

HH: Sie zerschneiden den Fluss, das heißt, Fische können die Barrieren nicht überwinden. Wandernde Fischarten müssen zum Ablaichen stromaufwärts schwimmen, gelangen aber nicht mehr dorthin…

MP: … und die vorhandenen Fischtreppen funktionieren meist nicht. Sie führen oft zu wenig Wasser, sind außerdem oft zu steil, und die Fische können ihren Eingang nur schlecht finden. Dämme und Wehre haben außerdem zur Folge, dass der Sedimenttransport unterbrochen wird. Dadurch bilden sich keine frischen Kiesbänke im Flussbett, die für eine erfolgreiche Fortpflanzung etwa von Forellen notwendig sind, und außerdem für die natürliche Selbstreinigungsfunktion der Flüsse.

Warum wurden in Europas Flüssen so viele Barrieren gebaut?

MP: Die ältesten Querbauwerke stammen aus dem Mittelalter und dienten dazu, Mühlen zu betreiben, die ab dem 20. Jahrhundert oft in kleine Wasserkraftwerke umgebaut wurden. Viele andere Barrieren wurden gebaut, um die Auswirkungen von Flussbegradigungen zu kompensieren, die oft im Zuge landwirtschaftlicher Bodenverbesserungsmaßnahmen durchgeführt wurden. Die Begradigung eines Baches oder Flusses führt ja wegen des erhöhten Gefälles unweigerlich zur Tiefenerosion, das heißt, das Sediment wird vom fließenden Wasser mitgeführt. Dadurch wird das Fließgewässer tiefer, und Ufer und Brückenfundamente werden instabil. Um das zu vermeiden, verlegte man viele Sohlschwellen, brachte also weitere Barrieren in den Fluss.

Welche aktuellen Entwicklungen sind besonders problematisch?

HH: Auf dem Balkan gab es 2015 noch 590 Wehre für kleine Wasserkraftwerke, inzwischen sind es über 1.300, die Zahl hat sich also binnen fünf Jahren mehr als verdoppelt. In den kommenden Jahren will man weitere 3.000 Wasserkraftwerke bauen. Die geplanten Wasserkraftwerke sind mit einer Kapazität bis zu zehn Megawatt meist klein, sie erzeugen also wenig Strom. Dennoch haben sie schlimme Auswirkungen, weil sie oft das gesamte Bachwasser über lange Kanäle zu den Turbinen leiten, so dass weite Fließstrecken komplett trocken fallen, mit verheerenden Auswirkungen für das Leben darin. Der Bau kleiner Kraftwerke wird leider durch staatliche Subventionen gefördert, übrigens auch in Deutschland. 

Frau Huđek, wie würden Sie insgesamt das Bild beschreiben, das Sie vorgefunden haben?

HH: Im Vergleich zu den Flüssen in Mitteleuropa gibt es auf dem Balkan noch mehr naturbelassene Flüsse, aber diese werden dort derzeit durch eine „Welle“ von Wasserkraftwerken sehr schnell zerstört. Wir haben gesehen, wie Flusswälder abgeholzt, natürliche Flussbetten begradigt, neue Barrieren gebaut, Flüsse kanalisiert wurden, wie Wasser verschmutzt und Müll in Flüssen abgelagert wurde, und standen vor ausgetrockneten Flussbetten. Diese Probleme verbreiten sich in der Balkanregion wie eine Krankheit, unberührte Flüsse verschwinden dort vor unseren Augen.

Sie und Ihre Kolleg*innen schlagen vor, möglichst viele vor allem kleinere Querbauwerke rückzubauen. Wo lassen sich Barrieren am effektivsten entfernen?

MP: Viele Querbauwerke werden tatsächlich nicht mehr genutzt, so dass man diese systematisch zurückbauen könnte. Auch viele der etwa 72.000 Verrohrungen hierzulande könnte man relativ einfach durch größere Unterführungsprofile ersetzen oder die Bäche wieder ans Tageslicht holen. Solche Verrohrungen finden sich überall, wo Straßen über Bäche geführt werden oder die Bäche bei anderen Nutzungen störten. Sie schrecken durch ihre glatte Oberfläche Fische, aber auch andere Tiere wie den Fischotter ab. Wenn größere Querbauwerke abgerissen werden, ist es allerdings oft auch notwendig, frühere Flussbegradigungen wieder rückgängig zu machen. Somit steht dann eine komplette Renaturierung an, damit der Bach oder Fluss wieder länger und flacher wird. Dafür muss man Ufergelände aufkaufen, das Gewässer verbreitern und in Kurven legen. Das bedeutendste Beispiel in Deutschland für eine solche Renaturierung ist die Lippe in Nordrhein-Westfalen, wo man mittlerweile auf langen Strecken wieder einen schönen Fischbestand und eine sehr interessante dynamische Flussaue vorfindet.

Die Ergebnisse dieser Fluss-Bestandsaufnahme flossen direkt in die EU-Biodiversitätsstrategie 2030 ein: Bis dahin sollen europaweit 25.000 Kilometer Flussläufe von Querbauwerken befreit werden. Ist das realistisch?

MP: Das Ziel ist ambitioniert, weil viele Flüsse dazu ja auch renaturiert werden müssen, aber unserer Einschätzung nach machbar! Wir haben für Europa bereits 27 Flüsse mit einer Gesamtlänge von 5.500 Kilometern identifiziert, wo sich Querbauwerke mit eher geringem Aufwand abreißen lassen.

Über welche Kosten sprechen wir dabei?

MP: Die Renaturierung der genannten 27 Flüsse wird etwa 315 Mio. € kosten, was umgerechnet auf die Einwohnerzahl der EU einen Betrag von 70 Cent pro Bürger*in ergibt. Zum Vergleich: Die Landwirtschaft wird durch jede/n EU-Bürger*in mit etwa 100 € pro Jahr finanziell unterstützt. Dennoch erscheinen die Kosten für Flussrenaturierungen zunächst einmal hoch. In einem neuen EU-Projektantrag machen wir deswegen Vorschläge, wie man die Akzeptanz von Renaturierungsmaßnahmen bei der Bevölkerung erhöhen kann. Die Idee: den Leuten zu vermitteln, welche Vorteile sie davon haben, wenn „ihr“ Fluss für viel Geld renaturiert wird. Diese so genannten Ökosystemleistungen sind beispielsweise der Rückhalt von Hochwasserwellen, die Stabilisierung des Grundwasserstands in Trockenperioden, bessere Selbstreinigung und ein größerer Erholungswert beim Spazierengehen, Angeln oder Baden. Ein Positivbeispiel: ein renaturierter Abschnitt des Flusses Ruhr in Arnsberg (NRW) hat sich zu einem beliebten Fotohintergrund für frisch vermählte Paare entwickelt!

Das Gespräch führte Wiebke Peters.

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Ansprechpersonen

Martin Pusch

Programmbereichssprecher*in
Forschungsgruppe
Funktionelle Ökologie und Management von Flüssen und Seeufern

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