Schon lange beschäftigen sich Forschende mit der Entstehung kollektiver Verhaltensmuster. Dank einer Kombination aus Verhaltensexperimenten, Computersimulationen und Freilandbeobachtungen weiß man, dass sich viele – scheinbar komplexe Muster – tatsächlich durch einfache Regeln erklären lassen: sich von anderen wegzubewegen, wenn man sich zu nahe kommt; sich schneller auf andere zuzubewegen, wenn man sich zu weit entfernt; und sich ansonsten mit der gleichen Geschwindigkeit zu bewegen und sich mit der Gruppen auszurichten.
„Neben den Regeln, die Individuen bei der Interaktion mit anderen befolgen, müssen wir die Verhaltensweisen und Eigenschaften der Individuen und ihren Einfluss auf die kollektiven Prozesse berücksichtigen", erläutert Dr. Jolle Jolles, Wissenschaftler am Zukunftskolleg der Universität Konstanz und Hauptautor der Studie. „Auch im Tierreich, wie beim Menschen, unterscheiden sich Individuen in ihrem Verhalten erheblich voneinander – etwa hinsichtlich ihrer Aktivität, ihrer Risikobereitschaft und ihres Sozialverhaltens", ergänzt der Wissenschaftler. Was sind die Folgen dieser Verhaltensheterogenität für das kollektive Verhalten? Und wie kann man diese Folgen am besten abschätzen?
Der Robofish wird als Artgenosse anerkannt
Um die die generellen Mechanismen kollektiven Verhaltens und die individuellen Unterschiede im kollektiven Verhalten auseinanderzuhalten, baute das Forschungsteam den „Robofish", einen Roboter-gesteuerten künstlichen Fisch, der nicht nur aussieht und sich verhält wie ein Guppy – ein kleiner tropischer Süßwasserfisch – sondern auch auf natürliche Weise mit den echten Fischen interagiert. Das Team nutzte eine hochauflösende Videoerkennung und ein Feedback-System, um den Roboterfisch in Echtzeit auf die Aktionen des echten Fisches reagieren zu lassen.
"Eine der einfachen Interaktionsregeln des Robofishs war es, einen konstanten Abstand zu seinem Schwarmgefährten zu halten", erklärt Studienleiter Dr. David Bierbach, der im Rahmen des Berliner Exzellenzclusters „Science of Intelligence“ an der HU Berlin und am IGB forscht. „Diese Regel befolgte der Robofish, indem er beschleunigte und abbremste, wann immer es der echte Fisch tat. Die Programmierung des Robofish ohne eigene Bewegungspräferenzen gab uns die einzigartige Gelegenheit zu untersuchen, wie individuelle Unterschiede im Verhalten der Fische zu Unterschieden auf Gruppenebene führten.“
Schnelle Guppys sind stärkere Anführer
Die Forschenden maßen zunächst die natürliche Bewegungsgeschwindigkeit der Guppys, indem sie deren Bewegungen beobachteten, wenn sie allein in einem großen Aquarium waren. Wenn die Fische anschließend mit dem Robofish in Kontakt kamen, schwammen Fisch und Robofish als Paar zusammen. Es gab jedoch große Unterschiede im Sozialverhalten zwischen den Paaren: Paare mit einem schnelleren echten Guppy schwammen viel synchroner, aber weniger dicht beisammen und der echte Guppy kristallisierte sich zu einem klareren Anführer heraus – anders als bei Paaren mit einem langsameren Guppy. Da sich der Robofish immer nach identischen Regeln verhielt, sind diese Unterschiede im Gruppenverhalten auf die individuelle Geschwindigkeit der Guppys zurückzuführen.
Dies zeigt, dass die individuelle Geschwindigkeit ein grundlegender Faktor bei der Entstehung kollektiver Verhaltensmuster ist. Da individuelle Geschwindigkeitsunterschiede oft durch Merkmale der einzelnen Gruppenmitglieder wie deren Größe, Alter oder auch Ernährungszustand hervorgerufen werden, können die Ergebnisse dieser Studie helfen, die Rolle der Heterogenität in Tiergruppen zu verstehen.
Zukünftige Studien mit dem interaktiven Robofish werden sich auf andere Aspekte des kollektiven Verhaltens konzentrieren. Eine Forschungsfrage ist beispielsweise, wie sich ein ganzer Schwarm fast zeitgleich bewegen kann, wenn die einzelnen Tiere nur auf die Aktionen ihrer Nachbarn reagieren. „Wir wollen die Software des Robofish so verbessern, dass er die nächsten Schritte des echten Fisches vorhersagen und antizipieren kann, denn wir nehmen an, dass Tiere auch das Verhalten ihrer Nachbarn im Schwarm antizipieren können", erläutert David Bierbach.
Das Verständnis dieser Mechanismen ist auch deswegen wichtig, weil es auf künstliche Systeme angewandt und zur Entwicklung von Maschinen verwendet werden kann, die sich kollektiv bewegen – wie Roboterschwärme, fahrerlose Autos und Drohnen.